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Vorn

Titel: Vorn
Autoren: Andreas Bernard
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Ausgabe bestand fast ausschließlich aus festen, wöchentlich wiederkehrenden Rubriken, von denen die Redakteure jeweils eine
     oder zwei betreuten. Eine dieser Rubriken setzte sich aus einer Reihe von Kurzporträts junger Menschen zusammen, die in der
     Erscheinungswoche der Ausgabe etwas Besonderes zu tun haben würden. Als die Redakteurin, die diese Seiten koordinierte, ein
     schwarzhaariges Mädchen namens Carla, ihn aufforderte, er könne jederzeit mit Ideen zu ihr kommen, sagte Tobias – er hatte
     insgeheim gehofft, dass es ein solches Angebot geben würde –, dass er sogar einen Vorschlag habe, einen jungen Skateboarder
     aus dem Jugendzentrum, in dem Emily seit kurzem arbeitete. Zu seiner Überraschung willigte Carla, die von den meisten in der
     Redaktion nur mit ihrem Nachnamen »Bertoni« angeredet wurde, sofort ein. »Klar, |19| mach das doch«, sagte sie, »ich weiß ja von Susanne, dass du schreiben kannst.« Dann meinte sie noch, er solle bis nächste
     Woche »1500 Zeichen« abgeben: ein Ausdruck, der ihm als Längeneinheit von Texten noch nicht vertraut war.
     
    Als Tobias das
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Magazin nach vielleicht einer dreiviertel Stunde verließ, seinen Besucherschein abgab (er hatte in der Aufregung zuerst vergessen,
     ihn unterschreiben zu lassen, und musste noch einmal zu Susanne hinauf) und wieder nach draußen auf die Straße kam, war er
     in überschwänglicher Stimmung. Es hatte tatsächlich funktioniert! Er war jetzt Autor beim
Vorn
! Schnell ging er zum Marienplatz, der nur zwei Minuten von der Redaktion entfernt lag, und rief von einem der Münztelefone
     im U-Bahn-Geschoss Emily in ihrem Jugendzentrum an. Er erzählte ihr atemlos von den Redakteuren, von der reibungslosen Art,
     wie sich alles ergeben hatte, und von der unglaublichen Aussicht, jetzt schon mit einer bereits fest eingeplanten Geschichte
     über die Flipper – »in Heft 42, weißt du, also so in einem Monat« – und einer verabredeten in der kleinen Anfangs-Rubrik dabei
     zu sein. Diese begeisterten Berichte an Emily wiederholten sich in den darauffolgenden Wochen noch einige Male, denn immer
     wenn Tobias in die
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Redaktion kam, um Texte abzugeben (er hatte kein Fax, und E-Mail wurde zu der Zeit noch nicht benutzt), kehrte er mit neuen
     Aufträgen zurück, durfte weitere Artikel schreiben, zumeist auf den Seiten von Carla, aber auch in der »Details«-Rubrik mit
     längeren Texten, die Susanne betreute. In diesem Bild – wie er Emily am Telefon im U-Bahn-Geschoss mit euphorischer |20| Stimme die neuesten Ergebnisse seiner Besuche durchgab – war seine Erinnerung an die Anfangszeit beim
Vorn
noch Jahre später eingefasst.

[ Menü ]
    |21| 2
    Tobias und Emily hatten sich im Betreuerteam des Flüchtlingsheims kennengelernt. Die Unterkunft, ein notdürftig umgebautes
     Bürogebäude in einem Industriegebiet, wurde von einer Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Studenten geleitet, die bei der Stadtverwaltung
     angestellt waren; es gab keine professionelle Heimleitung. Emily war eine Art Sprecherin des Teams und erstellte alle vierzehn
     Tage den Schichtplan. Tobias imponierte ihr Auftreten und die bestimmte Art, mit der sie die Konferenzen leitete und den Kontakt
     zu den behäbigen Sachbearbeitern vom Amt hielt, auch wenn diese Resolutheit auf den ersten Blick gar nicht zu ihrem fast zierlichen
     Aussehen passte. Aber obwohl Emily erst dreiundzwanzig war, schien sie seit langem mitten im Leben zu stehen, hatte schon
     ein Pädagogik-Studium abgeschlossen (das ihr verhasst war, wie er bald erfuhr) und mehrere Jahre in dieser Unterkunft gearbeitet.
     Von einem Kollegen aus dem Team hörte Tobias bei einer seiner ersten Schichten, dass Emilys früherer Freund ein bekannter
     Autonomer in München gewesen sei und mit ihr zusammen politische Veranstaltungen wie den »Volxtanz« organisiert habe. Man
     sah das ihrer Kleidung auch ein wenig an, dem schwarzen Halstuch und der Lederjacke, die sie meistens anhatte, und Tobias
     gefiel der Kontrast zwischen der Strenge, die von diesen Zeichen ausging, und der warmen Ausstrahlung ihrer Augen.
     
    |22| Näher kamen sie sich zum ersten Mal ein paar Wochen später, als sie gemeinsam den Einkauf für die große Weihnachtsfeier in
     der Unterkunft übernahmen. Tobias holte Emily an einem Tag Mitte Dezember in ihrer Wohnung im Glockenbachviertel ab. Als sie
     damals die Tür öffnete, bemerkte er sofort, wie schön ihre Wohnung eingerichtet war. Das Haus, im zweiten Hinterhof gelegen,
    
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