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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition)
Autoren: Jesmyn Ward
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Haaren herumlaufen, sie meinte, solche Locken kämen in unserer Familie immer wieder vor, und wenn ich sie schon hatte, sollte ich sie auch genießen. Aber ich schaute in den Spiegel und wusste, dass ich ansonsten nichts Besonderes war: breite Nase, dunkle Haut, klein und schlank wie Mama, alle Kurven nach innen gewölbt, sodass ich hölzern wirkte. Ich zog mir ein frisches T-Shirt an und hörte zu, wie sie draußen redeten. Die dünnen, nicht isolierten Wände, die sich an den Nahtstellen voneinander lösten, gaben mir das Gefühl, als könne Manny mich schon sehen, ehe ich überhaupt nach draußen ging. Meine Englischlehrerin auf der Highschool, Miss Dedeaux, gibt uns jeden Sommer etwas zu lesen auf. Nach der neunten Klasse lasen wir
Als ich im Sterben lag
, und ich bekam eine Eins, weil ich die schwierigste Frage richtig beantworten konnte:
Warum hält der kleine Junge seine Mutter für einen Fisch?
Diesen Sommer, nach der zehnten Klasse, lesen wir
Das große Buch der klassischen Mythen
von Edith Hamilton. Das Kapitel, das ich vorgesternzu Ende gelesen habe, heißt »Acht kurze Geschichten von Liebenden« und geht über die Geschichte von Jason und den Argonauten. Ich fragte mich, ob Medea sich auch so gefühlt hat, ehe sie hinausging, um Jason zum ersten Mal zu treffen, so als wäre ein starker Wind durch sie hindurchgegangen und hätte sie erbeben lassen. Die summenden Insekten auf dem sandigen roten Hof, der hüpfende Ball, die Bluesmusik aus Daddys Autoradio, all das rief mich vor die Tür.
    China vergräbt ihr Gesicht zwischen ihren Pfoten und reckt das Schwanzende in die Luft, bevor sie mit einem letzten Schub den ersten Welpen hinauspresst. Sie sieht aus, als wolle sie einen Kopfstand machen, und ich hätte am liebsten laut gelacht, aber ich tue es nicht. Blut strömt aus ihr heraus, und Skeetah hockt sich noch näher zu ihr, um zu helfen. China hebt ruckartig den Kopf und reißt Augen und Maul gleichzeitig auf.
    »Vorsicht!«, sagt Randall. Skeetah hat sie erschreckt. Er legt seine Hände auf sie, und sie steht auf. Einmal bin ich mit Mama in die Methodistenkirche von meinem Daddy gegangen, obwohl sie uns katholisch erzogen hat, und so sehen Chinas Bewegungen aus: als hätte sie den Heiligen Geist eingefangen, als würde diese heiligste aller Stimmen sie durchzucken, und nicht Skeetahs. Ich frage mich, ob sich ihr Körper so anfühlt, als wäre er im Griff einer riesigen Hand gefangen, die sie ausquetscht, bis sie leer ist.
    »Ich seh ihn!«, ruft Junior.
    Der erste Welpe ist groß. Er reißt Chinas Körper weit auf und gleitet auf einer rosafarbenen Schleimspur heraus. Skeetah fängt ihn auf, legt ihn an die Seite, auf einen Stapel zerrissener dünner Handtücher, den er vorbereitet hat. Er wischt ihn ab.
    »Orange, wie sein Daddy«, sagt Skeetah. »Das wird ein echter Killer.«
    Der Welpe ist fast orangefarben. Eigentlich hat er die Farbeder rötlichen Erde, nachdem jemand sie umgegraben hat, um ein Feld anzulegen, oder alle Steine ausgebuddelt hat, um eine Leiche zu bestatten. Mississippirot. Der Vater hatte dieselbe Farbe: Er war klein und sah aus wie ein großer rotbrauner Muskel. Er war mit schorfigen Fleisch- und Hautfetzen übersät, die seine Kampfwunden bedeckten. Als er und China Sex hatten, waren ihre Kiefer blutverschmiert, auch Chinas Fell, und statt nach Liebe sah es aus, als würden sie kämpfen. Chinas Haut kräuselt sich wie Wasser im Wind. Der zweite Welpe gleitet mit den Füßen zuerst halb heraus und bleibt dann stecken.
    »Skeet«, quiekt Junior. Er hat ein Auge und die Nase gegen Randalls Bein gepresst, das er umklammert hält. Er wirkt sehr dunkel und sehr klein, und im düsteren Nachtlicht kann ich die Farbe seiner Kleidung nicht erkennen.
    Skeetah packt das Hinterteil des Welpen, und seine Hand bedeckt den ganzen Rumpf. Er zieht. China knurrt, und der Welpe kommt heraus. Er ist rosa. Als Skeetah ihn auf das Lager legt und ihn abwischt, wird er weiß mit kleinen schwarzen Punkten, die aussehen wie Wassermelonenkerne, die ihm jemand aufs Fell gespuckt hat. Seine Zunge hängt aus dem dünnen Schlitz seines Mauls, er sieht aus wie ein platter Comic-Hund. Er ist tot. Skeetah lässt das Handtuch los, und der Welpe rollt steif wie ein Kegel über den Tuchstapel, bis er leicht an den rotbraunen Welpen stößt, dessen Beine wie blinzelnde Augenlider zucken.
    »Verdammt, China.« Skeetah atmet tief aus. Noch ein Welpe ist unterwegs. Dieser gleitet langsam mit dem Kopf zuerst heraus; ein
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