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Volksfest

Volksfest

Titel: Volksfest
Autoren: Rainer Nikowitz
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Bach hieß «Graben». Und beim Dorfteich hatten die Altvorderen sicherlich nächtelang gebrütet, eine metgeschwängerte Versammlung nach der anderen abgehalten, bis endlich festgestanden war: «Lacke». Manche verwendeten aber auch gerne die Erweiterung «Krötenlacke». Vor allem die Älteren. Also die, die noch wussten, was Kröten waren.
    Ein weit über die normale Würzigkeit von Landluft hinausgehender Gestank zog von der Lacke herauf. Hatte ein Bauer mal wieder seinen Gülle-Überschuss großherzig der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt? Suchanek ging an den Straßenrand, um über die kleine Böschung hinuntersehen zu können. Unten am Wasser saß ein Fischer, den er sofort erkannte. Der Schneckerl.
    Der Schneckerl hieß eigentlich Herbert Prohaska. Wie der Fußballer. Einer der wenigen, die Österreich in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hatte, die nicht besser Skifahrer werden hätten sollen. Und da der kickende Herbert Prohaska aufgrund seiner zumindest in jungen Jahren leicht ausufernden Lockenpracht «Schneckerl» genannt wurde, hieß der Wulzendorfer Prohaska auch so, obwohl seine Frisur das vermutlich eher nicht rechtfertigte. Genau konnte man das aber nicht wissen, denn Schneckerl war mit dem speckigen Hut wohl schon geboren worden, den er jetzt auch trug. Suchanek konnte sich nicht erinnern, ihn jemals ohne gesehen zu haben. Wobei er ihn ohnehin meistens nur gehört hatte. Denn Schneckerl wohnte ganz am Ende von Suchaneks Gasse. Seine wegen Schneckerls haltloser Sauferei von ihm Geschiedene hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn auch noch rauszuwerfen, und ihm ein kleines Kammerl im Keller gelassen. Und wenn sich Schneckerl in warmen Nächten, in denen Suchaneks Kinderzimmerfenster offen gewesen war, auf der Schlussetappe des langen, kräftezehrenden Weges vom Wirten zu seinem Keller befunden hatte, hatte er gerne dem Polier auf der Baustelle virtuell die Meinung gegeigt, mit kräftiger Stimme zu Unrecht in Vergessenheit geratene Volkslieder intoniert oder die Dämonen, die ihn wieder einmal heimsuchten, verscheucht.
    Schneckerl zeigte auf Suchanek und rief: «Dich kenn ich!» Und nach einer kleinen Pause sagte er: «Du bist doch der. Oder?»
    «Der kleine Suchanek», sagte Suchanek.
    Schneckerl kniff die Augen zusammen und schien irgendwie nachzudenken. Schließlich gelangte er offensichtlich zu einem zufriedenstellenden Ergebnis und wies auf den halbvollen Doppler Wein, der neben ihm im Wasser dümpelte. «Setz dich her. Und nimm einen Hacker!»
    Suchanek kletterte die Böschung hinunter. Dabei stellte er fest, dass der Gestank aus dem großen Kanalrohr kam, das waagrecht unter der Straße durchlief. Es war früher wohl einmal dazu gedacht gewesen, eventuelles Hochwasser aus der Lacke auf die damals noch unbesiedelte Gstetten abzuleiten. Zu diesem aber doch sehr theoretischen Zweck war den praktisch denkenden Wulzendorfern aber zum Glück zusätzlich noch ein anderer eingefallen. Vor allem der Bobek Willi, der seine Autowerkstatt direkt hier am Wasser hatte, war bekannt dafür, in Angelegenheiten der Müllentsorgung vor allem einmal die Kostengünstigkeit im Auge zu haben. Wenn ein Wulzendorfer sagte: «In der Krötenlacke liegt ein ganzes Auto», dann war völlig klar, wie es da reingekommen war. Verschlissene Bremsscheiben, durchgebrannte Lichtmaschinen, aus der Mode gekommene Felgen – Willi musste nur ein paar Schritte bis zum Loch gehen, und weg waren sie. Das Loch war die tiefste Stelle der Lacke. Obwohl eine Lacke definitionsgemäß eigentlich gar keine tiefe Stelle hat. Aber da war Wulzendorf halt wieder einmal was Besonderes.
    Und Dinge, die aufgrund ihrer physikalischen Beschaffenheit eventuell wieder auftauchen hätten können, stopfte Willi ganz gerne in das Kanalrohr. Jeder wusste das. Und wenn es der Willi machte, war es eh schon wurscht. Dann konnten die anderen auch. Als Bub hatte Suchanek einmal durch das Rohr kriechen müssen, um nach dieser Mutprobe endlich nicht mehr der einzige Cowboy in einem ansonsten von Indianern bewohnten Dorf zu sein. Er wollte heute noch immer nicht genau wissen, worüber er da im Dunkeln so gerobbt war. Und genützt hatte es im Übrigen auch nichts.
    «Beißen sie?», fragte er und wies mit dem Kopf auf Schneckerls Angel.
    Schneckerl schüttelte betrübt den Kopf, dass die Trophäen auf seinem Hut sanft zitterten. Er hatte einen ganzen Haufen Wandernadeln, ein Abzeichen von Rapid Wien, zwei fleckig-silbrige rammelnde Hasen und eine Münze
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