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Volksfest

Volksfest

Titel: Volksfest
Autoren: Rainer Nikowitz
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Schwinger verpasst hatte und erst eine Dreiviertelstunde später wieder aufgewacht war, weil er im Traum glücklicherweise gerade vom Nanga Parbat abgestürzt war, alles versucht hatte, um seine Verspätung so gering wie irgend möglich ausfallen zu lassen. Er hatte seine Rostlaube dermaßen durch die sich vor Wien unnötig breit machende Ebene gejagt, dass sich jeder Verkehrspolizist alle zehn Finger nach ihm abgeschleckt hätte.
    Keine Geschwindigkeitsbegrenzung, keine Ortstafel, kein Zebrastreifen, gar nichts vermochte Suchanek zu bremsen. Auch nicht das weiße Kreuz, das knapp vor Wulzendorf an jenem Kirschbaum angebracht war, an dem der Lengauer Edwin und sein GTI , unzertrennlich wie immer, ihre Leben ausgehaucht hatten.
    Und auch nicht der Blumentrog mit den verwelkenden Geranien, diesen Straßenhuren unter den Blumen, und die auf rustikal getrimmte Holztafel, auf der stand: «Wulzendorf grüßt seine Gäste».
    Als ob nach Wulzendorf schon jemals irgendein Gast gekommen wäre. Nicht einmal der berühmte Gefängnisausbrecher Prtil, der damals auf seiner Flucht hier durchgekommen war, hatte in Wulzendorf haltgemacht.
    Nein, Prtil musste unbedingt die drei Kilometer nach Bernhardsau weiterfahren, erst dort zwei Leute erschießen und schließlich der Gendarmerie am Bahnhof ein Gefecht liefern, das er nicht überlebte. Und Wulzendorf kam nicht in die «Zeit im Bild», und dann kamen erst recht keine Gäste, während sie den Bernhardsauern die Türen einrannten.
    Wenn die Wulzendorfer die Bernhardsauer nicht schon immer «Bernhardsäue» genannt hätten, wäre das damals ein hervorragender Moment gewesen, damit anzufangen.
    Die Bernhardsäue bildeten sich ja sogar noch heute, vierzig Jahre später, weiß Gott was ein auf ihre paar Einschusslöcher in den Bahnhofsmauern. So viel, dass sie sie sogar extra aus der Wand geschnitten hatten, natürlich mit ein bisschen Wand rundherum, weil sonst geht so ein Loch ja leicht verloren. Irgendwann in den Achtzigern war das gewesen, als man den alten Bahnhof durch ein modernes Waschbetonwartehäuschen ersetzt hatte. Vielleicht würde das ja in vierzig, fünfzig Jahren auch ins Bernhardsauer Heimatmuseum kommen, neben Prtils Löcher.
    Wulzendorf immerhin hatte dafür nicht nur den einzigen grünen Kirchturm im ganzen Bezirk, auch wenn es mehr so ein gespiebenes Grün war, aber eben doch das einzige, sondern auch die einzige funkgesteuerte Kirchturmuhr weit und breit. Der junge Zwölfer-Leitner hatte diese gottgefällige Anschaffung im Pfarrgemeinderat durchgesetzt. Weil er doch vom alten Zwölfer-Leitner, der bis zum Schluss täglich die Hühnerleiter im Kirchturm hinaufgestiegen war, um die Uhr aufzuziehen, die monströse Kurbel geerbt hatte, die man dazu brauchte. Quasi in dynastischer Thronfolge. Eh der letzten in Wulzendorf, seit der Gemeindestier durch ein doch etwas pflegeleichteres Röhrchen für die künstliche Befruchtung ersetzt worden war, das der Einser-Neuhold nicht mehr zu füttern brauchte. Aber, wie es halt oft so ist mit den Jungen: Kaum hielt er die Kurbel, an der der väterliche Schweiß von Jahrzehnten klebte, in Händen, beschloss der Zwölfer umgehend, das Kirchturmuhraufziehrecht nicht mehr unbedingt als Privileg zu betrachten.
    Und die Kirchturmuhr, die aus diesem Grund auf die Millisekunde genau ging, zeigte, als der Suchanek mit 120 an der Ortstafel und den Geranien vorbeiwetzte, 6 . 14  Uhr. Beide Zahlen musste man als eher ungünstig ansehen. Denn somit wurde die ihn schon länger beschleichende Befürchtung, er müsse seine Eltern möglicherweise gar nicht mehr von ihrem Haus abholen, um sie zum überschaubaren Hauptplatz von Wulzendorf zu bringen, wo sie um 6 . 15  Uhr den Bus zu besteigen gedachten, zur tragischen Gewissheit. Sie waren schon da.
    Dem Busfahrer, einem feisten Glatzkopf ohne Hals, der gerade den Kofferraum des Busses von «Schweinbarth-Reisen» öffnete, wehte es die Krawatte über die rechte Schulter, als Suchanek mit immer noch nicht viel weniger als 120 über den Hauptplatz flog, auch, weil sie in der Autoindustrie sicher wahnsinnig viel bauen konnten, aber leider immer noch keine Bremsen, die auch ohne erwähnenswerte Beläge ihren Dienst taten.
    Erstaunt blickte der Chauffeur auf, um festzustellen, woher diese Windhose denn auf einmal kam. Dann wanderte sein Blick zu Suchaneks Vater, der neben ihm stand und angesichts der vorbeifetzenden Frucht seiner Lenden die typische Robert-Lembke-Bewegung machte: Er schlug die Hände vor
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