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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond
Autoren: Cassie Alexander
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»Ein Bad
in Sagrotan wäre mir lieber.«
    Â»Mit einem geliehenen
Seifenschnorchel?«
    Â»Meinst du damit einen
Schnorchel, der aus Seife geschnitzt ist, oder einen, der Seifenblasen machen
kann?«
    Â»So weit hatte ich das noch
nicht durchdacht.« Charles war noch dreckiger als ich. Über seine Hose zogen
sich blutige Kreise, als hätte jemand von den Knien abwärts eine schlechte
Batiktechnik ausprobiert.
    Nachdem wir unser Stockwerk
erreicht hatten, verschafften wir uns Zugang zu dem vorgelagerten Wasch- und
Umkleideraum, wobei wir ein Papierhandtuch benutzten, um das Sensorfeld nicht
zu verkleben. Dort schnappten wir uns frische OP -Kleidung und gingen zu
dem einen Waschraum, der von beiden Geschlechtern benutzt wurde.
    Â»Du zuerst, Edie. Bin gleich
wieder da.«
    Normalerweise hätte ich eine
solche Ritterlichkeit nicht auf mir sitzen lassen, aber mein momentaner Zustand
war mir tatsächlich so zuwider, dass ich nicht protestierte. Charles verschwand
nebenan im Umkleideraum der Männer. Also drückte ich mit dem Ellbogen die Tür
zum Waschraum auf und ging hinein.
    Die Handschuhe wanderten in den
Mülleimer für kontaminierte Materialien. Mein Oberteil und die Jeans warf ich
ebenfalls weg, während ich bei meinem Mantel die Hoffnung noch nicht aufgeben
wollte. Und nachdem ich mich gewaschen hatte, zog ich die OP -Kleidung an und trat
wieder auf den Flur hinaus.
    Charles verließ gerade den
Umkleideraum, ebenfalls ganz in grün, in der Hand seine Brieftasche und
Schlüssel. Ich fühlte mich jetzt frisch wie ein nur leicht beflecktes
Gänseblümchen, aber Charles roch auch so. »Hast du dich etwa mit Benzoesäure
abgeschrubbt?«, fragte ich ihn.
    Â»Jawohl.«
    Â»Ist das nicht toxisch?«
    Â»Das hoffe ich doch«, erwiderte
er, während er in seinen Mantel schlüpfte. »Ich hau ab, Spence.«
    Â»Aber … willst du gar nicht
wissen, wie es ihm geht?«
    Charles hielt mir die Tür auf
und wir gingen gemeinsam in den Hauptkorridor zurück. »Nein. Ich nehme die
Arbeit nicht mit nach Hause. So ist es am sichersten.« Hinter ihm öffnete sich
der Fahrstuhl, und er stieg ein, hielt aber mit einer Hand die Tür offen.
    Ich war hin- und hergerissen:
Sollte ich endlich mal einen von Charles’ Ratschlägen annehmen oder mich doch
lieber informieren, wie es unserem neuen Patienten ging? Charles schüttelte den
Kopf und seufzte. »Du siehst so aus, als könntest du sofort mit der Arbeit
loslegen. Dabei solltest du besser schnell verschwinden, bevor die noch
vergessen, dass du eigentlich zur Nachtschicht gehörst.«
    Â»Ich beeile mich.«
    Â»Wir sehen uns bei der
Schicht.« Er zog die Hand zurück, die Türen schlossen sich, und er war weg.
    So ganz allein fühlte ich mich
in dem halbdunklen Korridor ziemlich verloren. Ich wusste, dass es rechts und
links jede Menge Türen gab, zu denen mir mein Ausweis keinen Zutritt gewähren
würde. Hinter mir befanden sich nur der Aufzug und die Umkleideräume. Die
Doppeltür, die zu Y4 führte, lag direkt vor mir. Durch die Drahtglasfenster
in der Mitte fiel strahlend helles Licht. Wäre ich mit einem sanfteren Gemüt
gesegnet gewesen, hätte Betäubungsmittel geschluckt oder einen plötzlichen
Blutverlust erlitten, wären sie mir vielleicht wie das Tor zum Paradies erschienen.
Aber ich wusste es besser. Die meisten Angestellten arbeiteten nicht hier, weil
sie es so wollten, sondern weil die Schatten ihnen keine andere Wahl gelassen
hatten. Und unsere Patienten waren sowohl die Opfer als auch die Verursacher
eines endlosen Kreislaufs brutaler Gewalt.
    Trotz all dem – oder vielleicht
gerade deswegen – hatte ich das Gefühl, mit meiner Arbeit hier etwas bewirken
zu können. Und deshalb wollte ich gar nicht gehen.
    Vor Kurzem hatte ich dabei
geholfen, ein kleines Mädchen zu retten, das zufällig ein Vampir war. Ich hatte
mein Leben für sie riskiert – was zur Folge gehabt hatte, dass ich sitzen
gelassen und niedergestochen wurde.
    Seit der Thron der Rose sie vor
einiger Zeit bei mir abgeholt hatte, hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Ihr
nicht zu helfen, hätte ich nicht übers Herz gebracht. Gleichzeitig konnte ich
nun nur hoffen, dass sie nicht durch meine Hilfe vom Regen direkt in die Traufe
gekommen war.
    Und was nun aus diesem Mann
wurde, musste ich ebenfalls wissen. Ich klemmte mir den Mantel unter den
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