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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht
Autoren: William Gibson
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dreißig Metern Entfernung hinterließen die Gummiklumpen größere
    Blutergüsse. Der Theorie zufolge bekam man es ja nicht immer gleich mit einem ganzen Haufen bewaffneter Einbrecher zu tun, und die Gefahr, mit einem Chunker den Kunden zu verletzen oder sein Eigentum zu beschädigen, war, verglichen mit herkömmlichen Schußwaffen, weitaus geringer. Wenn man es aber doch mit einem bewaffneten Einbrecher zu tun bekam, hatte man die Glock. Obwohl der Einbrecher wahrscheinlich Vollmantelgeschosse aus einem Gasdrucklader rausjagte — aber das kam in der Theorie nicht vor. Ebensowenig wie die Tatsache, daß gut ausgerüstete Einbrecher häufig voll auf Dancer und deshalb übermenschlich schnell und im klinischen Sinn psychotisch waren.
    In Knoxville hatte es massenweise Dancer gegeben, und das Zeug war schuld daran gewesen, daß Rydell 19
    suspendiert worden war. Er war in eine Wohnung
    gekrochen, in der ein Maschinenbauer namens Kenneth Turvey seine Freundin und zwei kleine Kinder festhielt und die Präsidentin zu sprechen verlangte. Turvey war weiß und dünn, hatte seit einem Monat nicht mehr gebadet und sich das heilige Abendmahl auf die Brust tätowiert. Es war eine ganz frische Tätowierung; sie war noch nicht mal verschorft. Durch einen Film aus trocknendem Blut konnte Rydell sehen, daß Jesus kein Gesicht hatte. Die Apostel allesamt auch nicht.
    »Verdammt«, sagte Turvey, als er Rydell sah. »Ich will nur mit der Präsidentin sprechen.« Er saß nackt und mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa seiner Freundin. Er hatte ein Stück Rohr im Schoß, das komplett mit Klebeband umwickelt war.
    »Wir versuchen, sie Ihnen herzuholen«, erwiderte
    Rydell. »Tut uns leid, daß es so lange dauert, aber wir müssen den Dienstweg einhalten.«
    »Herrgott noch mal«, sagte Turvey müde, »begreift denn keiner, daß ich von Gott gesandt bin?« Er klang nicht besonders wütend, nur erschöpft und ungehalten.
    Rydell konnte seine Freundin durch die offene Tür des einzigen Schlafzimmers in der Wohnung sehen. Sie lag rücklings auf dem Boden, und eins ihrer Beine schien gebrochen. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie bewegte sich überhaupt nicht. Wo waren die Kinder?
    »Was ist das für ein Ding?« fragte Rydell und zeigte auf den Gegenstand in Turveys Schoß.
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    »Eine Knarre«, sagte Turvey. »Deshalb muß ich ja
    auch mit der Präsidentin sprechen.«
    »So eine Knarre hab ich noch nie gesehen«, gab
    Rydell zu. »Was verschießt sie?«
    »Grapefruitdosen«, antwortete Turvey. »Mit Beton
    drin.«
    »Im Ernst?«
    »Passen Sie auf«, sagte Turvey und hob das Ding an die Schulter. Es hatte eine Art Verschluß, der sehr kompliziert konstruiert war, einen Abzug, der wie ein Teil einer Spannbacke aussah, und ein paar biegsame Schläuche. Letztere liefen zu einer gewaltigen Gasflasche hinab, so groß, daß man sie nur mit einem Handwagen transportieren konnte. Sie lag neben dem Sofa auf dem Boden.
    Auf dem staubigen Polyesterteppich der Freundin
    kniend, hatte er zugesehen, wie die Mündung an ihm vorbeischwang. Sie war groß genug, daß man eine Faust hineinstecken konnte. Er beobachtete, wie Turvey durch die offene Schlafzimmertür auf den Wandschrank zielte.
    »Turvey«, hörte er sich sagen, »wo zum Teufel sind die gottverdammten Kinder?«
    Turvey betätigte die Spannbacke und stanzte ein
    Loch von der Größe einer Fruchtsaftdose in die Tür des Wandschranks. Die Kinder waren dort drin. Sie mußten geschrien haben, obwohl Rydell sich nicht erinnern konnte, es gehört zu haben. Rydells Anwalt argumentierte später, daß er zu diesem Zeitpunkt nicht 21
    nur taub gewesen sei, sondern sich in einem Zustand sonisch induzierter Katalepsie befunden habe. Turveys Erfindung kam bis auf ein paar Dezibel an das Geräusch heran, das die Betäubungsgranate eines Sondereinsatzkommandos erzeugte. Aber Rydell konnte sich nicht daran erinnern. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, daß er Turvey in den Kopf geschossen hatte. Er erinnerte sich an gar nichts mehr, bis zu dem Zeitpunkt, als er im Krankenhaus aufwachte. Da war eine Frau von Cops in Schwierigkeiten, der Lieblingssendung von Rydells Vater, aber sie sagte, sie könne eigentlich erst mit ihm reden, wenn sie mit seinem Agenten gesprochen hätte. Rydell sagte, er hätte keinen.
    Sie sagte, das wisse sie, aber es werde ihn einer anrufen.
    Rydell lag da und dachte daran, wie er sich früher immer mit seinem Vater Cops in Schwierigkeiten angeschaut hatte. »Um was für
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