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Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)

Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)

Titel: Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)
Autoren: Johannes Clair
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Jugendlicher oder ein Kind? Was, wenn keiner vorher auf mich geschossen hat, ich aber als Erster schießen muss, um beispielsweise einen Anschlag zu verhindern?
    Ich hätte gehen können, einfach nein sagen. Ich hatte mehrmals die Chance dazu.
    Ich werde niemanden dazu zwingen, mitzukommen, sagte Muli uns einmal bei einer Besprechung. Wenn einer nicht will, denke ich nicht schlechter von ihm.
    So war mit der Zeit eine Gruppe entstanden, bei der klar wurde, dass sie zusammen funktionieren würde. Dass jeder sich auf den anderen würde verlassen können.
    Die Einsatzausbildung war hart. Bereits frühmorgens im Dunkeln machte Nossi auf einer Wiese vor unserem Kasernengebäude mit uns Nahkampftraining. Es war unglaublich anstrengend. Faustschläge, Tritte, Liegestütze, wieder Faustschläge. Er ließ uns üben, bis wir Arme und Beine nicht mehr heben konnten. Wir hassten es. Woche für Woche, Tag für Tag. Irgendwann merkten wir, wie unser Selbstvertrauen stieg, wie sich die Leistungsfähigkeit von Körper und Geist steigerte. Wir genossen es nicht, aber wir wurden uns unserer Fähigkeiten bewusster. Anschließend übten wir bis in die späten Abendstunden all die Verfahren, die wir würden anwenden müssen, wenn es zu kritischen Situationen kam: Unter Beschuss Verletzte bergen, zurückschießen, in Formation bleiben. Vorrücken, sichern, wieder vorrücken. Grundlagen, die wir so oft übten, bis sie uns in Fleisch und Blut übergegangen waren. Danach übten wir weiter. Das Ganze wechselte sich mit dem Trainieren von Fahrzeug- und Fußpatrouillen ab, oft über mehrere Tage, irgendwo im Gelände, um das richtige Auf- und Absitzen im Gefecht und die Fähigkeiten unserer Fahrer zu trainieren.
    Wir gingen auf die Schießbahn. Wir übten und übten. Allmählich wurde uns klar, dass wir im entscheidenden Augenblick nicht nachdenken durften, sondern handeln mussten. Einen solchen Automatismus erreicht man nur mit intensiver, wiederholter Arbeit. Wir erlernten auch Techniken, die nicht zum normalen Repertoire eines deutschen Soldaten gehörten. Dinge, die sonst nur von Spezialkräften angewendet wurden. Wir hatten das große Glück, einen Zug in der Kompanie zu haben, der für Spezialaufgaben ausgebildet war. Die Kameraden hatten ein jahrelanges Training hinter sich, und wir konnten von ihnen viel lernen. Komplexe Dinge wie den Orts- und Häuserkampf. Ein Gebäude zu stürmen, sieht nur im Film einfach aus. Aber auch Dinge, die weniger auffielen, wie das sinnvolle Zusammenstellen von persönlicher Ausrüstung. Dies verdankten wir in erster Linie diesem Zug unserer Kompanie, aber auch Männern wie Nossi, die diese Spezialausbildung ebenfalls genossen hatten und sie an uns weitergaben. Und auch unserem Kompaniechef, der die normale Einsatzvorbereitung der Bundeswehr als nicht ausreichend bewertete und unser Training ergänzen ließ.
    Keine Sekunde ließ er uns daran zweifeln, dass wir in einen Krieg ziehen würden. Unser Kompaniechef sprach immer offen aus, was er von uns erwartete: Das zu tun, was sonst keiner tue, dorthin zu gehen, wo sich sonst keiner hinwage, dort weiterzumachen, wo andere aufgaben. Er nannte es Treue um Treue.
    Fürs Vaterland und den Kameraden neben uns. Wir waren »seine Männer«. Angriff ist die beste Verteidigung, beschrieb er seine Philosophie. Er war ein Offensivdenker. Auch dass er über die übliche Zeit hinaus fast vier Jahre lang unser Kompaniechef war, um uns im Einsatz führen zu können, und dadurch vielleicht Karrierenachteile in Kauf nahm, war kennzeichnend für seinen Charakter. Davon abgesehen, hatte unser Chef den Grundsatz, die zentrale Dienstvorschrift nicht zu wörtlich zu nehmen. Solange der Laden lief und niemand zu sehr über die Stränge schlug, ließ er uns an der langen Leine. Trotzdem genoss er innerhalb der Kompanie einen unglaublichen Respekt.
    Seine Erscheinung war beeindruckend. Ein ebenmäßiges, strenges Gesicht, eine etwas zu groß geratene Nase und einen Blick, der alles durchdringen konnte. Er sprach mit einer tiefen Stimme und langsam, schien jedes Wort mit Bedacht zu wählen. Beim Sport trug er eine Hose, die etwas zu kurz geraten schien, ähnlich den Trainingshosen, die man in den siebziger Jahren trug. Dadurch kamen seine langen Beine sehr zur Geltung, was uns jedes Mal schmunzeln ließ, wenn wir ihn so sahen. Er war ganz anders als die meisten Offiziere, die wir kannten. Er vermittelte uns das Gefühl, ernst genommen zu werden, und verströmte ein Vertrauen, wie ich
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