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Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)

Titel: Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
Autoren: Helmut Schmidt , Giovanni di Lorenzo
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diffamierender Unsinn, wenn auch im Falle der osteuropäischen Juden positiv diskriminierend!
    Die Sache mit der Intelligenz wollen wir doch mal genau untersuchen (holt das Originalinterview hervor): Sarrazin wünscht sich Einwanderung nicht durch Türken und Araber, er sagt, es würde ihm gefallen, »wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung«. Was auch immer, ich halte diese sachliche Aussage für richtig.
    Sie glauben, dass Menschen von Geburt an intelligenter oder dümmer sind, weil sie einem bestimmten Volk oder gar einer Religionsgemeinschaft angehören?
    Es spielen bei der Intelligenz natürlich zwei Dinge eine Rolle: die Begabung, das sind die Gene. Und es spielt das soziale Umfeld eine Rolle, die Schule, die Familie und all das, was man braucht, um aus der Begabung etwas zu machen. Das dürfte die moderne Wissenschaft heute ähnlich sehen und dafür ihre Fachausdrücke haben. Es gibt ja gar keinen Zweifel daran, dass die hohe geistige Bedeutung von Wissenschaft und Kunst in Berlin zur Zeit der Weimarer Republik ganz wesentlich den Juden zuzuschreiben war.
    Und was soll es bringen, alle Türken pauschal anzurempeln und so hässliche Ausdrücke zu gebrauchen wie »Kopftuchmädchen produzieren«?
    Ich hätte diese Ausdrücke sicherlich nicht gebraucht. Nach einem langen Gespräch, das umgangssprachlich geführt wurde, hätte ein Redakteur an drei oder vier Stellen Korrekturen vornehmen müssen. Das hat offenbar keiner getan.
    Warum verteidigen Sie Herrn Sarrazin? Weil Sie ihn lange kennen und einmal einen guten Eindruck von ihm gewonnen hatten?
    Nein, weil ich sein Interview ganz gelesen habe – im Gegensatz zu vielen Journalisten. Aber es stimmt auch, dass ich ihn seit mehr als dreißig Jahren kenne. Er hat als Berliner Finanzsenator hervorragende Arbeit geleistet.
    Der Philosoph Peter Sloterdijk hat zum Fall Sarrazin geschrieben: »Man möchte meinen, die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen.« Gibt es bei uns wirklich einen solchen Druck zur Konformität?
    Ich hätte es abermals anders formuliert, aber im Prinzip ist etwas Richtiges an dem, was Herr Sloterdijk schreibt. Ein wichtiger Punkt ist doch, dass die Volksmeinung überwiegend auf der Seite Sarrazins ist.
    Sie haben oft genug gesagt, dass man dem Volk auch widersprechen muss!
    Natürlich würde das auch für Sarrazin gelten. Aber er hat es doch gar nicht zum Volk gesagt, sondern in einer esoterischen Zeitschrift, die bis vorgestern niemand gekannt hat. Es war doch keine Rede auf dem Marktplatz von Leipzig!
    Ich würde Ihnen gern eine etwas abgeschmackte Frage stellen, die so ungefähr schon jedem gestellt worden ist. Aber bei Ihnen wissen es die meisten wirklich nicht: Wo waren Sie am 9. November?
    Ich muss zunächst erzählen, wo ich am 5. und 6. November war, nämlich in der damaligen DDR, in Meißen, Sachsen, und in einem kleinen Ort in Richtung Chemnitz, das damals noch Karl-Marx-Stadt hieß. Durch Vermittlung von Manfred Stolpe war ich dort zu zwei Versammlungen der evangelischen Kirche eingeladen. Es brodelte, die Leipziger Demonstrationen waren schon einige Zeit im Gange. Ein Pastor, an den ich mich noch besonders gut erinnere, sagte während der stundenlangen Diskussion dem Sinn nach: »Verdammt noch mal, es muss doch einen mittleren Weg geben zwischen Sozialismus und Demokratie!« Mit Sozialismus meinte er seinen DDR-Sozialismus. Die Diskussionen zeigten die enormen Mängel an Wissen und Erfahrung, wie Demokratie funktioniert, wie Märkte funktionieren, was man sich unter einer sozialistischen Marktwirtschaft vorstellen sollte. Es war ziemlich interessant, aber auch deprimierend. Hinzu kam, dass jeder Angst hatte, dass irgendwo ein nervöser Kommandeur den Befehl zum Schießen gibt, in irgendeiner prekären Lage. Wir sind dann mit Stolpe zurück nach Berlin gefahren und am nächsten Tag nach Hamburg geflogen. Am übernächsten Tag saß ich vor dem Fernseher und sah die Öffnung der Mauer – ohne dass ein Schuss gefallen war. Die ganze Zeit kamen mir die Tränen.
    War das die größte politische Überraschung Ihres Lebens?
    In jedem Fall war es eine große Überraschung. Und es gab noch eine zweite: Einen Tag später waren Hunderte von Trabbis in unserer Straße. Die Leute waren alle schon über Nacht aus dem Osten gekommen und hatten sich durchgefragt, wo
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