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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl
Autoren: dtv
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als Liebender, nicht als Kenner. Um
mich
zu befriedigen, müßten diese Eigenschaften vereint sein. Ich könnte nicht glücklich sein mit einem Mann, dessen Geschmack nicht in jedem Punkt mit meinem eigenen übereinstimmt. Er muß sich in alle meine Gefühle hineinversetzen können; die gleichen Bücher, die gleiche Musik müssen uns beide entzücken. O Mama, wie unbeseelt, wie gesetzt war Edwards Vortrag, als er uns gestern abend vorlas! Elinor hat mir unendlich leid getan. Doch sie ertrug es mit soviel Fassung, sie schien es kaum zu bemerken. Ich konnte mich fast nicht auf meinem Platz halten. Diese wunderbaren Verse, die mich oft ganz wild gemacht haben, mit einer so unerschütterlichen Ruhe, einer so schrecklichen Gleichgültigkeit gesprochen zu hören!«
    »Er wäre sicher einem einfachen, eleganten Prosawerk besser gerecht geworden. Ich hatte das damals auch gedacht; aber du wolltest ihm ja unbedingt Cowper geben.«
    »Nein, Mama, wenn ihn nicht einmal Cowper animiert! Aber wir müssen bedenken, daß die Neigungen der Menschen verschieden sind. Elinor fühlt nicht so wie ich, und deshalb mag sie vielleicht darüber hinwegsehen und glücklich mit ihm sein. Aber wenn ich ihn lieben würde, hätte es mir das Herz gebrochen, ihn mit so wenig Gefühl lesen zu hören. Mama, je mehr ich von der Welt sehe, desto mehr bin ich überzeugt, daß ich niemals einem Mann begegnen werde, den ich wirklich lieben kann. Ich verlange so viel! Er muß Edwards sämtliche Vorzüge haben, und seine Erscheinung und |22| seine Umgangsformen müssen seiner Güte höchsten Charme verleihen.«
    »Vergiß nicht, meine Liebe, daß du noch keine siebzehn Jahre alt bist. Es ist noch zu früh im Leben, an einem solchen Glück zu verzweifeln. Warum solltest du weniger Glück haben als deine Mutter? In einem Umstand nur, meine liebe Marianne, möge dein Schicksal anders sein als das meine!«

|23| Kapitel 4
    »Wie schade, Elinor«, sagte Marianne, »daß Edward keinen Sinn für die Zeichenkunst hat.«
    »Keinen Sinn für die Zeichenkunst«, erwiderte Elinor, »warum denkst du das? Er zeichnet nicht selbst, das nicht, aber er hat großes Vergnügen daran, die Werke anderer Leute zu betrachten; und ich versichere dir, es mangelt ihm keineswegs an natürlichem Geschmack, er hatte nur keine Gelegenheit, ihn zu vervollkommnen. Hätte er jemals die Möglichkeit gehabt, es zu lernen, würde er gewiß sehr gut zeichnen. Er mißtraut seinem eigenen Urteil in solchen Dingen so sehr, daß er stets abgeneigt ist, seine Meinung zu einem Bild abzugeben; aber er besitzt eine angeborene Eigenheit und Klarheit des Geschmacks, die ihn im allgemeinen vollkommen richtig leiten.«
    Marianne fürchtete, sie zu kränken, und sagte nichts weiter dazu; doch diese Art Beifall, die Elinor meinte, als sie von seiner Freude an den Zeichnungen anderer Leute sprach, war weit entfernt von diesem höchsten Entzücken, das man nach ihrer Meinung allein einen
wirklichen Sinn für etwas haben
nennen könnte. Doch obgleich sie innerlich über diesen Irrtum lächelte, respektierte sie doch die blinde Parteilichkeit für Edward, die ihn hatte aufkommen lassen.
    »Ich hoffe, Marianne«, fuhr Elinor fort, »du glaubst nicht, daß es ihm ganz allgemein an Geschmack mangelt. Ich möchte sogar sagen, daß du das gar nicht kannst, denn dein Verhalten ihm gegenüber ist durchaus freundlich und offenherzig, und wenn du wirklich der Meinung wärst, er habe keinen Geschmack, würdest du bestimmt niemals so höflich zu ihm sein.«
    |24| Marianne wußte kaum, was sie darauf sagen sollte. Sie wollte auf keinen Fall die Gefühle ihrer Schwester verletzen. Und doch war es ihr unmöglich, etwas zu sagen, was sie nicht selbst glaubte. Schließlich erwiderte sie: »Sei nicht gekränkt, Elinor, wenn mein Lob für ihn nicht in allem deinem Verständnis für seine Verdienste gleicht. Ich habe nicht so oft Gelegenheit gehabt, seine kleineren Eigenheiten, seine Neigungen und seinen Geschmack zu beurteilen wie du, aber ich habe die höchste Meinung der Welt von seiner Güte und seinem Verstand. Ich halte ihn für außerordentlich achtbar und liebenswürdig.«
    »Ich bin sicher«, erwiderte Elinor mit einem Lächeln, »daß selbst seine liebsten Freunde nicht unzufrieden wären mit einem solchen Lob. Ich wüßte nicht, wie du noch wärmere Worte finden könntest.«
    Marianne freute sich, daß ihre Schwester so leicht zufriedenzustellen war.
    »Über seine Vernunft und seine Güte, denke ich«, fuhr Elinor
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