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Veritas

Titel: Veritas
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Adjutanten und Kammerdiener aus dem Balkan, arme Flüchtlinge, die den Türken entkommen waren, vor allem aber Heerscharen von Bedientenpack aus Mähren, das wie wimmelnde Bienenschwärme in Wien einfiel.
    Für all diese Völker war die Stadt vor unseren Augen ihre Hauptstadt. Würden wir hier finden, was Atto Melani uns versprochen hatte?
    Dank seines Darlehens hatten wir unsere mageren Ersparnisse den beiden Mädchen anvertrauen können, die wir lieber in Rom, unter der strengen Aufsicht unserer freundlichen istrianischen Nachbarn, gelassen hatten, damit sie dort weiterhin ihrem Gewerbe als Gevatterinnen nachgehen konnten. Unter Tränen und mit dem Versprechen, so bald wie möglich mit der langersehnten Mitgift zurückzukehren, auf dass sie endlich heiraten konnten, hatten wir tiefbetrübt von ihnen Abschied genommen.
    Freilich hätten wir, wenn uns in Wien das Glück nicht hold war, keinen Heller gehabt und die Stadt weder verlassen noch dort überleben können. Wir hätten nur Almosen erbetteln und im eisigen Winter auf unseren Tod warten können. So viel vermag die grausame Armut: Erst treibt sie die Sterblichen dazu, in höchster Eile durch die halbe Welt zu reisen, dann zwingt sie sie in der hoffnungslosen Umklammerung ihrer Fänge zur Unbeweglichkeit. Kurzum, wir hatten wahrlich einen Sprung ins Dunkle getan.
    Cloridia hatte der Reise schließlich zugestimmt: «Alles, wenn ich dich nur nie wieder mit diesem rußbefleckten Gesicht sehen muss», hatte sie gesagt. Allein die Vorstellung, dass ich jenes Gewerbe endlich aufgeben würde, welches sie so oft in Angst und Sorge versetzte, hatte sie bewogen, das Angebot Abbé Melanis anzunehmen.
    Unwillkürlich betrachtete ich meine Hände: Auch nach Tagen ohne Arbeit waren sie noch schwarz zwischen den Fingern, in den Poren und unter den Fingernägeln – das Erkennungsmerkmal der armseligen Schornsteinfeger.

    Cloridia und das Kind husteten stark, wie schon seit Tagen. Auch ich wurde von den Anzeichen einer geschwürigen Lungensucht gequält. Die Fieberanfälle, die auf der Hälfte der Reisestrecke begonnen hatten, hatten uns nach und nach sehr geschwächt.
    Die Kutsche fuhr über eine kleine Brücke, die einen der Verteidigungsgräben überspannte, und rollte endlich durch das Kärntnertor. In der Ferne sah ich die Tannenwälder des Kahlenbergs grün aufleuchten. Das Tagesgestirn zog seine goldenen Fingerkuppen von dem Hügel zurück und legte sie mitleidig auf meine arme Person: Unerwartet traf mich ein heiterer Sonnenstrahl mitten ins Gesicht. Ich lächelte Cloridia zu. Die Luft war kalt, klar und rein. Wir waren in Wien angekommen.

    Unwillkürlich fasste ich an die Tasche meiner schweren, funkelnagelneuen Pelerine, eines Erwerbs aus der Spende des Abbés, in der ich alle für die Reise erforderlichen Aufzeichnungen bewahrte. Aus den Papieren, die der römische Notar uns überreicht hatte, ging hervor, dass wir Unterkunft bei einer bestimmten Adresse finden würden, wo wir uns nach unserer Ankunft einfinden sollten. Der Name der Straße verhieß Gutes: Himmelpfortgasse.
    Umgeben von der unwirklichen Stille, die der Schnee mit sich bringt, fuhr die Kutsche jetzt langsam durch die Kärntnerstraße, welche vom Stadttor gleichen Namens in die Stadtmitte führt. Cloridia blickte sich mit vor Erstaunen geöffnetem Mund um: Zwischen den prächtigen, in ein aristokratisches, weißes Mantelkleid gehüllten Wohnhäusern und den Kutschen, die aus den Seitenstraßen hervorkamen, schlenderten Scharen warm eingehüllter Dienstmädchen unbekümmert durch die Straßen, als wäre dies ein Sonntag und nicht ein Tag mitten in der Arbeitswoche.
    Gerne hätte sie den Kutscher um eine Erklärung gebeten, doch sie verzichtete, der sprachlichen Schwierigkeiten halber.
    Ich hingegen hatte nur Augen für den Turm des Stephansdoms, den ich aus den Dächern zur Rechten, je näher wir kamen, umso mächtiger aufragen sah. Dies war, so überlegte ich, die heilige Spitze, welche die Osmanen im Sommer 1683 Tag für Tag mit ihren Kanonen unter Beschuss genommen hatten, während die Belagerten diesseits der Mauern der Stadt, die sich mittlerweile im Handel zu hoher Blüte entwickelt hatte, tapfer Widerstand leisteten, obgleich sie nicht nur mit den feindlichen Geschossen, sondern auch mit Hunger, Krankheit und Mangel an Munition zu kämpfen hatten.
    Der Kutscher, dem ich das Papier mit der für uns bestimmten Adresse gezeigt hatte, ließ uns in einer schmucken Querstraße der Kärntnerstraße
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