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Veritas

Titel: Veritas
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Wienn
Februar 1711
    Gewaltig wirbelten die Trommeln über die verschneite, kahle Fläche des großen Platzes vor den Stadtmauern. Ihr mächtiger Donner verband sich mit den silberhellen, verschlungenen Melodien der Paradetrompeten, der Militärpfeifen und der Blaskapellenhörner. Der martialische Lärm wurde noch gesteigert durch das Echo, das von den zyklopischen Mauern zwischen Tenaillen, Kronwerk, Außenwerk und Erdwällen widerhallte, sodass nicht eine, sondern drei oder vier, vielleicht gar zehn Gruppen von Musikanten am Werke schienen.
    Während ein Regiment des Heeres vor den Mauern der Stadt exerzierte, ragten aus dem Inneren der Bollwerke achtunggebietend die Spitzen von Kirchen und großen Häusern hervor, Kirchtürme, von Kreuzen überragt, zinnengekrönte Wachttürme, friedliche Kuppeln und weitläufige Terrassen, heilige und profane Gipfel, die den Reisenden ermahnten: Es ist keine gestaltlose Anhäufung von Menschen und Dingen, wohin du gelangst, sondern eine gefällige Wiege guter Seelen, eine starke Festung, eine von Gott gesegnete Schutzburg für Handel und Gewerbe.
    Unsere Kutsche war schon kurz vor dem Kärntnertor, durch welches die von Süden kommenden Reisenden nach Wien hineinfahren, da erblickte ich jene stolzen und noblen Erhebungen, die sich eine nach der anderen vor dem bleigrauen Himmel abzeichneten.
    Die höchste von allen, erklärte uns der Kutscher, sei die schlank aufragende, erhabene Fiale auf dem Turm des Stephansdoms, kühn durchbrochen von kostbaren Verzierungen, die jetzt zudem der weißschimmernde Mantel des Schnees verschönte. Dann ganz in der Nähe der mächtige, achteckige Turm der Dominikanerkirche. Dann der edle Glockenturm der Peterskirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit und jener der Michaeierkirche der Barnabitenpatres, der Turm von St. Hieronymus der Franziskaner-Zönobiten, die Fiale des Klosters der Chorfrauen an der Himmelpforte und viele andere, alle überragt von Zwiebelhelmen, wie sie für diese Gegend bezeichnend sind, die oben in vergoldeten Kugeln auslaufen und vom Heiligen Kreuz gekrönt werden.
    Schließlich erblickte ich das Sinnbild der allerhöchsten kaiserlichen Macht, den Wehrturm der Kaiserlichen Residenz, in welcher Joseph I. aus dem Hause der österreichischen Habsburger, glanzvoller Herrscher des Heiligen Römischen Reiches, seit sechs Jahren mit glücklicher Hand regierte.
    Während die Musik des Regiments uns zur Disziplin aufrief, die grandiosen, befestigten Stadtmauern zur Bescheidenheit und die zahllosen Kirchtürme der Stadt zur Gottesfurcht mahnten, begann ich, mir im Geiste die vielfachen Windungen der Donau vorzustellen, welche, wie ich aus den vor der Abreise studierten Büchern wusste, auf der anderen Seite Wiens floss. Vornehmlich aber rief ich mir stillschweigend den Namen jener üppigen, dunklen Masse ins Gedächtnis, die sich nun zwischen zwei Wolken am Horizont abzuzeichnen begann. Lieblich war sie anzusehen, mit ihren sanft gerundeten Hügeln, und gleichwohl mächtig, wie sie sich steil abfallend über die Wasser des Flusses beugte und still nach Osten blickte, ein stummer, heroischer Wächter der Stadt. Es war der Kahlenberg, ruhmreiche Anhöhe, Retterin des Abendlandes; jenes dichtbewaldete Vorgebirge, von dem aus die christlichen Heere die Stadt vor achtundzwanzig Jahren von der türkischen Belagerung befreit und ganz Europa vor der Bedrohung durch Mohammed gerettet hatten.
    Es war kein Zufall, dass ich jene Ereignisse so gut im Gedächtnis bewahrt hatte. Damals, vor vielen Jahren, im September 1683, als die Menschen in Rom und überall in Europa zitternd auf den Ausgang der Schlacht um Wien warteten, befand ich mich als junger Hausbursche in einer Locanda, wo ich Mittags- und Abendmahlzeiten servierte. Dort hatte ich unter den zahlreichen Gästen der Herberge einen gewissen Abbé Melani kennengelernt …
    Während sich die Räder der Kutsche ächzend aus einem der vielen Gräben zogen, schärfte ich meine Augen und sah, wie ein Sonnenstrahl das kleine Gebäude auf dem Gipfel des Kahlenbergs traf, eine Kirche vielleicht, ja, eine Kapelle, just jene, wo im Morgengrauen des 12. September 1683 ein Kapuzinerpater (so sagte mir meine Erinnerung, die jetzt schon Geschichte geworden war) vor dem entscheidenden Angriff die Messe gelesen und eine Ansprache an die christlichen Heerführer gehalten hatte, um sie zum blutigen, aber gesegneten Sieg über die Ungläubigen zu führen. Jetzt würde auch ich jenes glänzende Andenken an die
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