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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten
Autoren: Oswald Levett
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ihn, was er denn nur hätte.
    Er antwortete zögernd: ›Schau, Mutter, wie ich auf den
Baum geklettert bin, habe ich mich an einem Knorren arg gestoßen.
Ich habe mir den Knorren angesehen, und da habe ich
bemerkt, daß das eigentlich zwei Buchstaben sind, die man da
vor langer, langer Zeit eingeschnitten hat und die nun ganz
verwachsen sind. Ein E und ein B. Erasmus Büttgemeister.
Dann habe ich die Augen schließen müssen, und da habe ich
mich plötzlich ganz deutlich erinnert, wie ich selbst vor vielen,
vielen Jahren die Anfangsbuchstaben meines Namens in
die Rinde dieses Baumes schnitzte. Ach, das muß vor hundert
und hundert Jahren gewesen sein. Ich war schon erwachsen
und so merkwürdig angezogen, wie die Leute auf den alten
Bildern. Und ich war so furchtbar traurig.‹
    Das Kind begann zu weinen und war so aufgeregt, daß es
gar nichts essen konnte und daß ich es zu Bette bringen
mußte.
    Gleich Tags darauf habe ich mir diesen merkwürdigen
Knorren angesehen. Mit großer Mühe und mit sehr viel Phantasie
konnte man wirklich so etwas herauslesen wie ein verschwommenes
E. B., und solche Kleinigkeiten genügten, ihn
außer sich zu bringen.
    Aber sonst war er die reinste, edelste Seele und ein Herz
von Gold. Andere Knaben nehmen Vogelnester aus, spießen
die Käfer auf. Und er, wenn er einen Regenwurm sieht, macht
er einen Bogen, um ihn nicht zu zertreten, wenn er auf demWege eine weggeworfene Blume findet, trägt er sie ins Gras.
Und wie er an uns Eltern hing!
    In der Schule freilich ging’s nicht zum Besten. Der Lateinprofessor,
bei dem hat es immer geheißen: ›So ein Wirrkopf,
der verschläft ja alles. Der wird es nie zu etwas bringen.‹
    Aber der Mathematiker — Warnbühler hat ihn noch unterrichtet
in Mathematik und Physik, Sie wissen, der große
Warnbühler —, der sagte immer zu meinem seligen Manne:
›Büttgemeister‹, sagte er, ›der Junge wird unsterblich werden.
Denk an mich. Den wird man einmal nennen neben Newton
und Galilei. Laß den Lateiner schimpfen und den Buben träumen.
Er weiß schon, was er träumt.‹
    Wenn man das hört, läßt man sein Kind gern gewähren.
Vielleicht war das der Fehler. Vielleicht wäre alles anders gekommen,
hätten wir ihn in straffere Zucht genommen.
    Aber davon wollte ich ja nicht sprechen . . . Ja . . . wie das
zugegangen ist. In den letzten Jahren wurde er immer schrullenhafter,
immer schweigsamer.
    Es begann nach dem Tode Agathes. Agathe war seine
Braut. Er hing an dem Mädchen mit abgöttischer Liebe; mit
aller Glut seines ungestümen Herzens, mit aller Innigkeit seiner
reinen Seele. Sie war aber auch ein Engel an Schönheit
und Güte. Warten Sie, Sie müssen ihr Bild sehen.«
    Sie holte aus einer Truhe ein Familienalbum und zeigte mir
darin das verblaßte Lichtbild eines etwa achtzehnjährigen
Mädchens. Sie war tatsächlich von außerordentlicher Schönheit.
    Aus dem Album wehte es mich an wie Moderduft, und ich
fragte beklommen: »So jung und auch schon tot?«
    Sie antwortete mit einer seltsamen Gegenfrage: »Auch? . . .
Ja, sie ist gestorben, die Arme . . . verunglückt. Nun, seit
Agathes Tode begann die merkwürdige Veränderung im Wesen
meines Sohnes.
    Soweit ich beobachten konnte, beschäftigte er sich all die
letzten Jahre immer nur mit ein und derselben Erfindung.
    Was das eigentlich für eine Erfindung war, habe ich nieerfahren; denn er hielt sie selbst vor mir aufs strengste geheim.
    Aus seinem Zimmer hatte er ein förmliches Laboratorium
gemacht, das niemand betreten durfte. Ging er aus, so schloß
er sorgfältig ab, und wenn er mir auf mein dringendes Bitten
alle heiligen Zeiten einmal den Schlüssel überließ, um doch
endlich Ordnung zu machen, dann fand ich nur doppelt und
dreifach versperrte Schränke und auf dem Schreibtisch auch
nicht ein Blättchen, das sein Geheimnis hätte verraten können.
    Oft, ich gestehe es, versuchte ich, durchs Schlüsselloch zu
spähen. Wahrhaftig nicht aus bloßer Neugierde, nein, aus Besorgnis.
Denn ich hatte immer solch eine trübe Ahnung, daß
es mit dieser geheimnisvollen Erfindung noch ein Unglück geben
werde. Und ich bleibe heute noch dabei, daß diese unglückselige
Erfindung irgendwie mit seinem Verschwinden in
Zusammenhang steht.
    Nun, wenn ich so durchs Schlüsselloch lugte, dann sah ich
den Schreibtisch bedeckt mit ganzen Stößen von Papieren,
und er, er rechnete, rechnete, schrieb. Oft saß er, den Kopf
tief in die Hände vergraben, stundenlang regungslos, um
plötzlich aufzuspringen
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