Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten
Autoren: Oswald Levett
Vom Netzwerk:
hätte sie es doch mit einem Worte
angedeutet. Starb er den Tod eines Verräters? Starb er im
Wahnsinn? Oder waltete hier sonst ein düsteres Geheimnis?
    Eines Tages waren meine Notizen über den Fremden von
Ansbach vom Schreibtisch verschwunden. Alles Suchen blieb
vergeblich, so daß ich meine Hauswirtin um Hilfe bitten
mußte.
    Wirklich fand sie das Blatt, das sich zwischen dem Rücken
des Schreibtisches und der Zimmerwand lautlos und tückisch
versteckt hielt.
    So kam es, daß ich das Gespräch auf den Inhalt jenes Blattes
brachte.
    Nun hatte ich zwar schon früher oft bemerkt, daß sie das
Übersinnliche, wenn schon nicht glaubte, so doch keineswegs
bestritt und daß sie den okkulten Dingen bereitwillig entgegentrat.
Vielleicht erzeugt das Alter jenen Hang zur Mystik.
    Allein die Teilnahme, welche dieser neue Gegenstand in ihr
erweckte, war befremdlich.
    Frage stellte sie um Frage, und mit jeder Antwort, die ich
gab, wuchs ihre Erregung.
    Schließlich gab ich dem Gespräche fast gewaltsam eine andere
Wendung; so groß war die Erregung meiner Wirtin, so
unverständlich und darum so unheimlich.
Fünftes Kapitel
    W enn wir umgeben sind von Büchern, und von alten Schriften,
einsam hingegeben der Erforschung des Vergangenen,
den Menschen fern und frei von Leidenschaft, so wird in uns
bald das Bedürfnis wach, was wir an Menschenliebe noch besitzen,
auf ein Geschöpf aus Fleisch und Blut zu übertragen.
So ging es mir mit meiner Wirtin. Ich wurde dieser gütigen
und feinen Greisin, die ein unbekannter Kummer allzu
schwer bedrückte, von Herzen zugetan. Solche Gefühle bleiben
selten unerwidert.
    Als ich eines Abends im Dezember bei ihr eintrat — düster
war’s und stürmisch, und der Regen prasselte nieder —, fand
ich sie in Tränen. Ich konnte mich nicht enthalten, sie um die
Ursache ihres Kummers zu befragen. Sie deutete wortlos nach
dem Bilde ihres Sohnes. Heute wäre sein Geburtstag gewesen
— der sechsundvierzigste.
    Ich machte eine unbeherrschte Geste, die etwa besagen
sollte: ›So schmerzlich dies ist — aber wie viele Menschen
werden gar nicht sechsundvierzig Jahre alt!‹
    Als habe sie es erraten, erwiderte sie: »So rechnet eine Mutter
nicht . . . Aber, mein Gott, das ist ja schon so lange her,
daß ich ihn verloren habe; das sind ja heute volle achtzehn
Jahre . . . Eine Mutter braucht sich ihres Schmerzes nicht zu
schämen, noch ihn zu rechtfertigen. Und dennoch — wäre er
an einer Krankheit gestorben, wäre er verunglückt — Gottes
Fügung. Man nimmt es hin und sucht’s zu tragen. Wäre er im
Kriege gefallen, von einer Granate zerstückelt, vom Gas vergiftet
— man teilt’s mit Millionen. Irgendwo steht doch ein
Kreuz, vor dem man beten kann. Aber was mir meinen Jammer
so vergiftet, was mich so — Gott verzeih’s mir — so unversöhnlich
macht, das ist ja dieses unversöhnliche Geheimnis.
Hören Sie doch, wie es zugegangen ist:
    Er war ein merkwürdiger Mensch, schon als Kind und als
Mann erst recht. Verträumt, verschlossen, den Kopf immer
voller Pläne und Erfindungen.
    Seine Phantasie war überreich. Es verging keine Nacht, da
er nicht aus dem Schlafe redete. Nicht etwa einzelne, abgerissene
Worte; nein, lange, zusammenhängende Gespräche. Als
wir noch im Wohlstande lebten, hatten wir eine ganze Menge
alter Bilder. Vor denen stand er oft stundenlang und sah sie
an. Und von denen träumte er. Anfänglich erzählte er mir
seine Träume, doch später vermied er, davon zu reden. Und
doch, wenn ich nachts vor seine Stube schlich, hörte ich ihn
immer wieder aus dem Schlafe sprechen.
    Ein Nichts konnte ihn erregen und seine Einbildungskraft
entfesseln. An einem Sommerabend — er mochte damals zehn
oder zwölf Jahre alt gewesen sein — war er aus seiner Stube —
es ist der Raum, den Sie jetzt bewohnen — auf den Lindenbaum
davor geklettert. Sie sehen, die Äste dieses Baumes reichen
fast ins Zimmer.
    Es war Essenszeit, er kam trotz allen Rufens nicht. Ich ging
ihn holen.
    Da sah ich nun, wie er rittlings auf einem Ast hockte, tief
hinabgebeugt, irgend etwas an dem Stamm des Baumes unausgesetzt
betrachtete. Endlich richtete er sich auf, sah einen
Augenblick gedankenverloren vor sich hin, dann schloß er die
Augen und verharrte regungslos, indes Leichenblässe sein Gesicht
bedeckte.
    Ich stand da, mit angehaltenem Atem, und wagte nicht, ihn
anzurufen, aus Furcht, er könnte erschrecken und hinabstürzen.
    Als er endlich die Augen aufschlug und sich ins Zimmer zurückschwang,
fragte ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher