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Vergiss den Sommer nicht (German Edition)

Vergiss den Sommer nicht (German Edition)

Titel: Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
Autoren: Morgan Matson
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jugendlichen Filmstar, den ich damals verehrt hatte (und der seitdem mehrere in den Medien bestens dokumentierte Aufenthalte in Entzugskliniken absolviert hatte), waren von der Wand über meinem Bett verschwunden. Auch die Trophäen meiner Schwimmmannschaft (hauptsächlich Bronzemedaillen) waren nicht mehr da, genauso wie meine Lipgloss-Sammlung, die ich über Jahre hinweg aufgebaut hatte. Was vermutlich völlig in Ordnung ging, sagte ich mir, da das Zeug sicher inzwischen sowieso vergammelt gewesen wäre. Aber trotzdem. Ich ließ meine Tasche fallen und setzte mich auf das Bett, ließ den Blick vom leeren Kleiderschrank zur leeren Kommode wandern und suchte nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass ich hier zwölf Sommer verbracht hatte. Doch ich konnte keine finden.
    »Gelsey, was machst du denn da?«
    Die Stimme meines Bruders genügte, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. Ich ging hinaus in den Flur, um zu sehen, was da vor sich ging. Meine Schwester schleuderte gerade ein Stofftier nach dem anderen aus ihrem Zimmer in den Flur. Ich wich einem fliegenden Elefanten aus und gesellte mich zu Warren, der besorgt den wachsenden Kuscheltierhaufen vor seiner Tür beäugte.
    »Was ist denn hier los?«, fragte ich.
    »Die haben aus meinem Zimmer ’ne Babykammer gemacht«, schrie Gelsey wütend und beförderte ein weiteres Plüschtier – diesmal ein lila Pony, das mir irgendwie bekannt vorkam – durch ihre Tür. Ganz offenkundig war ihr Zimmer umgestaltet worden. In der Ecke standen jetzt ein Gitterbett und ein Wickeltisch, und auf ihrem breiten Bett stapelten sich die unerwünschten Kuscheltiere.
    »Wahrscheinlich hatten die letzten Mieter einfach ein Baby«, versuchte ich sie zu beruhigen und duckte mich, um einer Kollision mit einer fusseligen gelben Ente zu entgehen. »Warte am besten, bis Mom hier ist.«
    Gelsey verdrehte die Augen – etwas, das sie seit einer Weile fließend beherrschte. Sie war in der Lage, die verschiedensten Gefühle mit Augenrollen auszudrücken, was vielleicht daran lag, dass sie es ständig übte. Und jetzt teilte sie mir wohl gerade mit, dass ich absolut nichts checkte. »Mom wird frühestens in einer Stunde hier sein«, ließ sie mich wissen. Sie musterte das Stofftier, das sie gerade in der Hand hatte – ein kleines Känguru –, und drehte es hin und her. »Ich hab eben mit ihr gesprochen. Sie und Dad mussten noch nach Stroudsburg zu diesem neuen Onkologen.« Dabei sprach sie das letzte Wort sehr behutsam aus, so wie wir es alle taten. Es war ein Wort, dem wir vor ein paar Wochen – als ich noch dachte, dass mein Vater bloß ein bisschen Rückenschmerzen hatte, die sich sicher leicht beheben ließen – nicht die geringste Beachtung geschenkt hatten. Zu der Zeit wusste ich noch nicht mal, was eine Bauchspeicheldrüse eigentlich war. Und ich hatte definitiv keine Ahnung davon, dass Bauchspeicheldrüsenkrebs nahezu immer tödlich verlief und dass »Stadium IV« etwas war, das man um keinen Preis hören wollte.
    Die Ärzte in Connecticut hatten meinem Vater erlaubt, den Sommer in Lake Phoenix zu verbringen – unter der Bedingung, dass er sich zweimal im Monat beim Onkologen vorstellte, um den Krankheitsverlauf im Auge zu behalten, und dass er, wenn die Zeit dafür gekommen war, einen Pflegedienst akzeptierte, falls er nicht ins Hospiz wollte. Seine Krebserkrankung war so spät diagnostiziert worden, dass man offenbar nichts mehr tun konnte. Anfangs konnte ich das überhaupt nicht begreifen. In allen Krankheitsdramen, die ich bis dahin gesehen hatte, hatte es immer eine Lösung gegeben, irgendein auf wundersame Weise in allerletzter Minute entdecktes Heilmittel. Kein Kranker gab in diesen Filmen so einfach auf. Aber das war im richtigen Leben wohl anders.
    Kurzzeitig sahen Gelsey und ich uns an, aber ich schaute schnell wieder auf den Boden, zum dem wilden Haufen aus Stofftieren, die dort gelandet waren. Keiner von uns sagte etwas zu dem Zwischenstopp im Krankenhaus und was dieser bedeutete, aber das erwartete ich auch nicht. Wir hatten über das, was mit unserem Vater los war, noch nie gesprochen. Über Gefühlssachen redeten wir in unserer Familie sowieso kaum. Manchmal, wenn ich meine Freunde zu Hause besuchte und sah, wie in anderen Familien miteinander umgegangen wurde – wie man sich dort umarmte und über Gefühle sprach –, überkam mich eher Verlegenheit als Neid.
    Wir drei Geschwister hatten uns noch nie sonderlich nahegestanden. Wahrscheinlich war es dabei auch wenig
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