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Venice Beach

Venice Beach

Titel: Venice Beach
Autoren: P Besson
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Tunichtgut. Kein Dreckskerl, auch kein Gangster. Nur ein verirrter Junge, der vergeblich versuchte, seinen Weg zu finden.
     
    Unsere Dienststellen kannten ihn. Er hatte einige Nächte auf der Wache verbracht. Und einige andere im Knast. Er war dort nie sehr lange geblieben. In den Gefängnissen von Kalifornien herrscht häufig Platzmangel. Und es tauchenimmer Kandidaten auf, die wichtiger sind. Es hat den Anschein, als drängle man sich vor den Toren.
     
    Ich glaube nicht, ihm jemals begegnet zu sein. Ich habe Dutzende andere gesehen, die ihm glichen, die aussahen wie er, mit hautnahen Jeans über den mageren Beinen, engen T-Shirts , angeschwollenen Venen, ausgemergelten Gesichtern, tödlichen Krankheiten. Männliche und weibliche Prostituierte waren eine der wenigen Beschäftigungen unseres Polizeipostens.
     
    Ich erinnere mich an Carter Banks, Zack Fulham, Melissa Porter, Dorothy Driscoll. Keiner von ihnen war älter als zwanzig. Und alle hatten ihr Familienstammbuch verbrannt. Es ist erstaunlich, wie schnell man sich an solche Situationen gewöhnt. Man glaubt, es drehe uns den Magen um oder wecke unsere Empörung. Man stellt sich vor, man versuche, sie auf den rechten Weg zurückzubringen, diese verirrten Schafe. In Wirklichkeit kapituliert man fast sofort. Nach sechs Monaten hatte ich jede Hoffnung aufgegeben. Sie waren zu Namen in einer Kartei geworden, zu regelmäßigen Begegnungen, zu erwarteten Niederlagen, gemeinem Abschaum, voraussehbaren Leichen.
     
    Ich hätte Billy Greenfield nicht gerettet, wenn ich seinen Weg früher gekreuzt hätte. Ich habe im Übrigen nicht einen von ihnen gerettet. Und das ist für mich keine Gewissensfrage.
    Leider hatte Billy Greenfield die abgeschmackte Idee, sich in einer Nacht, in der ich Dienst hatte, ermorden zu lassen. Ich werde nicht darum herumkommen, mich mit seinem Fall zu befassen.

 
    Ich rief Laura an jenem Morgen an und sagte ihr, sie solle mich nicht zum Frühstück erwarten. Ich hatte sie aufgeweckt, ihre Stimme klang noch ganz verschlafen, wie ein leichtes Muhen. Wenn Lauras Stimme sich so dehnt, wenn sie sich so eigenartig dahinschleppt, ist sie umwerfend, Sie können sich das nicht vorstellen.
     
    Ich erzählte ihr, dass ein Toter aufgefunden worden war, ohne ins Detail zu gehen. Man möchte seinen Tag gern anders beginnen als mit einer solchen Geschichte. Sie schien nicht überrascht zu sein. In Wirklichkeit war sie noch im Halbkoma. Meine Worte gelangten nur gedämpft und abgeschwächt zu ihr. Manchmal gibt es eine leichte Abweichung zwischen dem, was man ausspricht, und dem, was die Leute hören. Und die Dinge verlieren erheblich an Bedeutung.
     
    Ich sagte: »Ich weiß nicht, wie lange es braucht, warte nicht auf mich, wir werden uns heute Abend sehen.« Ich erinnere mich: Ich legte eine große Sanftheit in meine Worte, ich wollte Laura nicht schroff behandeln, ich wandte mich an sie wie an jemanden, der sich gerade aus einem Trauma befreit hatte. Ich fühlte, sie war weit weg. Und friedvoll.
     
    Trotzdem hat sie, gleich nachdem ich auflegte, zurückgerufen. Und es war, als ob sie schlagartig aus den Tiefen aufgetaucht, wieder an die Oberfläche gekommen sei. Sie sagte: »Ich habe gespürt, wie sich das Baby in meinem Bauch bewegte, heute früh gegen drei Uhr.« Und nur von dieser Beschwörung wurde ich weich. In meinem Gesicht hatte ich eine Nacht ohne Schlaf, in meinen Armen einen Leichnam, auf meinen Schultern die ganze Müdigkeit der Welt, aber ich bemühte mich durchzuhalten. Und nun, plötzlich, versagten meine Knie, ich setzte mich auf den Schreibtischrand, ich hatte Lust zu weinen.
     
    McGill hat mir einen kurzen Blick zugeworfen. Er war erstaunt über diese plötzliche Erschöpfung. An meinem Gesichtsausdruck erkannte er, dass ich keine schlechte Nachricht erhalten hatte. Er hätte sich gern über mich lustig gemacht, da bin ich mir sicher, aber er hat gesehen, dass ich sehr gerührt war, und sich deshalb zurückgehalten.
     
    Laura fügte hinzu: »Ich hätte es so gern gehabt, du wärest da gewesen.« Ihr Tonfall war nicht vorwurfsvoll. Überhaupt nicht. Im Gegenteil, sie hat Tonnen von Liebe hineingepackt. Sie hätte es so gern gehabt, dass wir diesen Moment geteilt hätten. Dass ich meine Hand auf ihren Bauch gelegt hätte. Sie fühlte sich ein wenig privilegiert, ein wenig egoistisch.
     
    Ich flüsterte ihr zu, dass ich sie liebe. Dieser Satz ist mir eingefallen. Ich gebrauchte ihn nicht oft. Manchmal ist man überwältigt, die Worte
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