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Vampire küssen besser

Vampire küssen besser

Titel: Vampire küssen besser
Autoren: Savannah Russe
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zum St. Marks Place hochstieg, fragte ich mich, ob es jemals wieder Frühling werden würde. Der schneidende Wind pfiff mir durch Mark und Bein, und ich vergrub die Hände tief in die Taschen. Ich habe dünnes Blut. Mir wird leicht kalt. Dazu hatte ich so ein komisches Gefühl, das wie eine Made in meinem Bauch wühlte. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas da draußen war gefährlich.
    Ich habe gelernt, auf meinen Instinkt zu achten. Als ich in Richtung Osten zur Neunten Straße lief, behielt ich deshalb die Menschen ringsum im Auge. Es war noch nicht spät, vielleicht sieben Uhr, doch die Gebäude wirkten bereits trübe und verlassen. Im Licht der Straßenlampen glänzten nur die Bürgersteige vom vergangenen Regen. »Verdammt und zugenäht!«, sagte ich laut. »Bei der Saukälte schickt man ja nicht mal einen Hund vor die Tür!« Ich bibberte. Die feuchte Kälte durchdrang die dünnen Sohlen meiner Nine-West-Stiefel.
    Ich war zwei Blocks gelaufen, als ich hinter mir Schritte vernahm. Gleich darauf überholten mich ein paar schwarze Teenager, stießen sich gegenseitig aus dem Weg, drehten sich im Kreis, lachten und wiegten sich in den Hüften, während sie sich halb tänzelnd, halb im Laufschritt entfernten. Aber nicht sie hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Mein Gehör ist außergewöhnlich fein, es erfasste folglich den anderen Schritt, der gemessen war und stetig. Furcht legte sich wie ein schwarzes Tuch auf mein Gemüt.
    Ich kam an dem geöffneten Laden eines Wahrsagers vorbei. Am Türpfosten lehnte eine Zigeunerin und rauchte eine Zigarette. »
Strega!
«, rief sie mir zu, wich zurück und umklammerte das Kruzifix an ihrem Hals.
    »Schlampe!«, zischte ich und bleckte meine Zähne. Ich glaube, ich habe ihr einen ordentlichen Schreck eingejagt. Zigeuner mag ich nicht, denn sie stehlen alles, was sich nicht wehrt. Zügig lief ich weiter, um Sid so rasch wie möglich zu erreichen. Ich überquerte die Avenue A und musste mich beherrschen, nicht zu loszurennen. Dann kam die Avenue B, und nach einem weiteren halben Block stand ich vor der Eingangstreppe des Hauses, in dem Sid seine Bude hatte. Ich nahm die Stufen zwei auf einmal. Auf der letzten hielt ich inne und warf einen Blick zurück.
    Am anderen Ende eines umzäunten Basketballfeldes stand ein junger Mann und beobachtete mich. Ich wusste ohne jeden Zweifel, dass es seine Schritte gewesen waren, die ich hinter mir vernommen hatte. Eilig wandte er sich ab, und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, lediglich einen blonden Pferdeschwanz unter einer schwarzen Schiebermütze. Im Nu war ich in der Eingangshalle und drückte die Klingel zu Sids Wohnung. Nichts tat sich. Inzwischen hatte die Angst mich voll und ganz gepackt. Ein ums andere Mal drückte ich auf die Klingel und dachte, verflucht noch mal, Sid, wo zum Teufel steckst du?
    Zu guter Letzt ertönte der Summer, und die Tür sprang auf. Mit einem Satz war ich über die Schwelle. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Mit ein paar tiefen, reinigenden Atemzügen befahl ich mir, mich zu beruhigen. Es gab keinen Grund zur Sorge. Der Mann hatte nichts zu bedeuten, hatte nichts mit mir zu tun. Jeder Besuch bei Sid bedrückte mich, denn dass ich eine neue Geburtsurkunde brauche, bringt etliche meiner Probleme zutage. Es heißt, schon wieder sind zwanzig Jahre vergangen, doch ich bin immer noch die Gleiche. Menschen, die mir lieb waren, sind nicht mehr, doch ich bin noch da. Ein gähnender Abgrund der Einsamkeit tut sich vor mir auf. Ich sehe mich als ewigen Außenseiter. Missverstanden. Ein Freak. Ein Monster. Ich denke an die Meilensteine, die das Leben anderer Frauen markieren und die ich nie kennenlernen werde. An dem Punkt fange ich an, mich im Selbstmitleid zu suhlen. Dabei bin ich gar nicht allein. Es gibt jede Menge von meinem Schlag, mehr als Sie denken, und wir alle sind gezwungen, Sid aufzusuchen.
    Ich war froh, im Haus zu sein, und knöpfte auf dem Weg die Treppe hoch den Mantel auf. Im Treppenhaus roch es nach gekochtem Kohl und Urin, und wie üblich vermied ich es, tief Luft zu holen. Im Stillen verfluchte ich Sid für dieses Loch. Zum Glück war die Beleuchtung schwach. Sids »Büro« befand sich in einer Mietwohnung im vierten Stock. Es war die Art von Wohnung, in der in der Küche eine Badewanne stand, darüber ein Brett, um einen Tisch abzugeben. Allerdings wohnte Sid dort nicht. Wo er wohnt, weiß ich nicht – vielleicht in einem Obdachlosenheim, vielleicht in einem Reichenviertel. Er hat es mir
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