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Vaethyr: Die andere Welt

Vaethyr: Die andere Welt

Titel: Vaethyr: Die andere Welt
Autoren: Freda Warrington
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abhalten, das verbotene Reich von Stonegate Manor zu betreten.
    Während sie über die Waldpfade gingen, vermochte Rosie die Schattenreiche nicht zu spüren. Heute war die Welt nur dreidimensional, geschlossen und fest. Ständig musste sie an Jonathan, den jüngeren der beiden Brüder, denken. Noch nie hatte sie jemanden wie ihn gesehen. Er war so hübsch gewesen, wie ein Cupido in einem Gemälde. Sie fragte sich, was er sich wohl dabei gedacht hatte, als er sie ansah. Tat ihm etwa leid, was sein Bruder getan hatte? Wünschte er sich insgeheim, sie könnten Freunde sein? Würden sie ihm im Haus wiederbegegnen? Würden sie auf Sam treffen?
    Bei diesem Gedanken schnürte sich ihr vor Entsetzen alles zusammen. Der Diebstahl – so verheerend er auch war – war nur ein Symptom jener höhnischen Bosheit, die sie gespürt hatte, als Sam mit seiner kalten Fingerkuppe ihr Brustbein gestreift hatte, um ihr das geliebte Geschenk zu entreißen. Während sie den Berg erklommen, wurde das Sonnenlicht schwächer. Hier oben hing der Nebel, als waberte er aus dem Haus selbst, um jeden Fels und Baum in einen Geist zu verwandeln. Stonegate Manor ragte wie eine Festung mit vergitterten Fenstern vor ihnen auf. Sie bildete sich ein, von feindlichen Blicken beobachtet zu werden, und malte sich Armbrüste und Gewehre aus, die auf die Eindringlinge gerichtet waren.
    Mit ihren neun Jahren wusste sie nur sehr wenig von den Elfenwesen, wie sie sich selbst eingestand. Und so setzte sie sich in den Kopf, dass die Wilders besonders exklusive Elfenfürsten waren, die kalt auf ihre Untertanen herabschauten. Eine Familie schauerlicher Aristokraten, die in einem Schloss wohnten und so furchteinflößend waren, dass selbst ihr Vater es nicht wagte, sich ihnen zu nähern.
    Auf der Rückseite des Hauses lag ein planlos angelegter Garten mit weitläufigen Rasenflächen und Rhododendronbüschen vor natürlichen Felsen. Es gab keinen Zaun. Sie wünschte sich mit aller Macht, sich in einen Fuchs zu verwandeln – ihrem Namensvetter auf der Elementarebene – damit sie sich furchtlos und ungesehen ins Haus hätte schleichen können, aber das blieb ein bloßer Wunsch.
    Ein Hund bellte. Matthew packte sie und Lucas am Arm und drückte sie in einen wachsblätterigen Rhododendronbusch. »Wenn sie einen Wachhund haben, können wir das Ganze vergessen«, flüsterte er. Rosie sah ihm an, welch große Angst er hatte, und das entmutigte sie vollends. Überwältigt betrachtete sie den wuchtigen Bau aus Schiefer und Granit.
    Es kamen aber keine Hunde. Als erneutes Gebell ertönte, klang es weit entfernt. Silbergrün erstreckte sich der Rasen zwischen ihnen und ihrem Ziel. Den mittleren Teil des Gebäudes nahmen französische Fenster ein und neben der linken Hausecke befand sich eine Hintertür.
    »Dahin müssen wir«, sagte Matthew. »Duckt euch und rennt. Jetzt!«
    Sie rannten über die unebene Wiese, wichen Steinen aus und knallten schließlich gegen die Steinwand der Festung. Rosie bekam kaum Luft, und ihr Mund war trocken und klebrig.
    Keiner sah sie. Der Ort machte einen trostlosen Eindruck. Nur das Haus schien Wache zu halten.
    Sie war davon ausgegangen, dass Matthew ein Fenster aufstemmen oder eine Scheibe einschlagen würde, aber die Tür war unverschlossen. Er schob sie auf und sie gingen alle hinein, so einfach war das.
    Beim Betreten spürte sie regelrecht, dass sie eine Schwelle zu einem anderen Reich übertrat. Alles fühlte sich kalt und spitz an. Dieses Gefühl war so heftig, dass ihr schwindelig wurde. Lucas folgte ihr dicht auf den Fersen. Sie gelangten in einen schmalen Flur voller Mäntel und Stiefel, dahinter folgte eine Küche mit altmodischer Ausstattung und einem großen rechteckigen Spülstein. Bestürzt stellte Rosie fest, wie schäbig es hier aussah im Vergleich zu ihrer warmen, freundlichen Küche zu Hause. Von der Küche kam man in einen Korridor mit Steinwänden und einer nackten Glühbirne als Lampe. Sie schlichen sich an der Wand entlang, als würden sie dadurch auf wundersame Weise unsichtbar.
    Der Korridor führte sie in einen großen feudalen Saal, einen eisigen, höhlenartigen Raum, der sie ehrfürchtig verweilen ließ. Ängstlich ließen sie ihre Blicke auf der Suche nach feindlich gesinnten Augen über die Galerien schweifen. Dunkles Holz verband sich mit grauem Stein, über einem gewaltigen staubigen Kamin waren Wappen in den Stein geschnitten, frostiges Tageslicht blinzelte durch bleiverglaste Fenster. Ihre Zuversicht schwand,
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