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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel
Autoren: Landolf Scherzer
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ausgerechnet mit der U-Bahn fahren werden.«
    Zu Fuß finde ich auch den neuen Standort des Friedrichstraßen-Antiquariats. Hier kauften zu DDR-Zeiten viele Westdeutsche
     für ihr Zwangsumtauschgeldpreisgünstige Bücher. Der einstmals große Laden ist auf Kinderzimmergröße geschrumpft, und von den 11 Angestellten ist nur
     noch Ingrid Blankenburger übriggeblieben. Seit 30 Jahren in diesem Beruf. Und nun, mit 53, um ihre Zukunft bangend. Gemeinsame
     Interessen der Gewerbetreibenden dieser Straße? Sie hebt wie beschwörend beide Hände. »Die Leute, die in den Luxustempeln
     bei Lafayette und anderen einkaufen werden, wühlen nicht auf Büchertischen nach alter Literatur. Vielleicht dass sie mal ein
     Buch mit Goldschrift suchen, passend zum Meißner Porzellan. Eine Straße wie diese, ohne Fleischer und ohne Bäcker, ohne Bockwurstbude
     und Eisstand, das ist keine Straße zum Leben. Über diese Straße wird in 50 Jahren kein Schriftsteller wie Döblin schreiben
     können, weil hier keiner seine Kindheit verbracht haben wird.« Sie erzählt von der Friedrichstraße, als es hier neben Nobelhotels
     Bierkneipen gab und Künstlercafés neben Humboldts Wohnung. Hier hat Menzel gemalt, Kisch gezecht, Napoleon den Puff besucht,
     hier wohnten und arbeiteten Kleist, Hufeland, Ludwig Börne, Max Reinhardt … In Rahel Varnhagens Salon trafen sich Fichte,
     Chamisso, Hegel und Heine. Der schrieb in seinen Briefen aus Berlin: »Wenn man die Friedrichstraße betrachtet, kann man sich
     die Idee der Unendlichkeit veranschaulichen. Lasst uns hier nicht zu lange stehenbleiben. Hier bekommt man den Schnupfen.
     Es weht ein fataler Zugwind zwischen dem Halleschen und dem Oranienburger Tor.«
    Die Sache mit der Zugluft kann Professor Nalbach erklären. Nalbach, 52, ist Österreicher und Architekt und hat mit seiner
     Frau den Ersten Preis für die Bebauungdes Spree-Dreiecks am Bahnhof Friedrichstraße erhalten. Sein Büro finde ich in einem Steglitzer Hinterhof. »Büros gehören
     in die Hinterhäuser, aber nicht, wie in der künftigen Friedrichstraße, zu Tausenden an die Straßenfassade. Da knipsen die
     sparsamen Deutschen abends das Licht aus – und dunkel ist’s in der Weltstadt.« Und was die Zugluft betreffe, die Friedrichstadt
     sei als ein Areal geradliniger preußischer Ordnung angelegt worden. »Der Schutzmann brauchte sich bloß an eine Ecke zu stellen
     und sah kilometerweit. Und preußische Gewehrkugeln flogen auch sehr geradeaus.«
    Die Preisträger Nalbach, so die Jury, »zeigen Verständnis und Respekt für die traditionelle Struktur der Friedrichstraße«.
    »Heute ist diese Straße allerdings eine Plattform der Eitelkeit geworden«, sagt Nalbach. »Wer hier baut, wird geadelt.« Dem
     ginge es zwar auch ums Geschäft, vor allem aber um die Anwesenheit. »Mal übertrieben: Es hätte ausgereicht, in den alten,
     noch heute verbindlichen Maßen 22,40 Meter Straßenbreite und 20,20 Meter Traufhöhe, rechts und links vor den alten Gebäuden
     in der Friedrichstraße Videowände aufzustellen, jeder Firma eine Fläche zu geben, und die Leute wären vorbeidefiliert und
     hätten mit den Fingern drauf gezeigt und gestaunt: Die sind hier und die auch … Die Architekten der Friedrichstraße haben
     heute die Aufgabe, die in allen Blocks gleichen Büros und Geschäfte verschieden zu verhüllen. Unterschiedliche Verpackung
     für den gleichen Inhalt. Das ist, als ob ein Designer monatelang an einer Gewehrkugel feilt, um ihr Aussehen zu verändern.
     Aber eigentlich müsste er das Pulver rausschütten.« Für seinenEntwurf des Büro- und Geschäftshauses am Bahnhof habe er die Kugel wenigstens angebohrt. »Und wenn die vom Bauherrn gewünschten
     Büros nicht mehr zu vermieten sind, kann ich sie mit wenigen Handgriffen in Wohnungen verwandeln. Und plötzlich werden abends
     wieder Lichter in der Friedrichstraße brennen.«
    Im Norden der Friedrichstraße wohnen etwa 4.000 Menschen. In der Geldmeile zwischen Unter den Linden und Leipziger Straße
     nur noch ein einziger, in der Friedrichstraße 166, schräg gegenüber von der gläsernen Titanic. An seiner Haustür ein altes
     Schild: »Tanzschule Hadrich/Metzler«. Im Tanzsaal ein Kohleofen. Spiegel. Bänke. Alles sehr sauber. Zwei Stockwerke darüber
     wohnt seit 1976 der Tanzlehrer. Er ist schon 70, aber noch schlank und beweglich. Einer von der alten Schule, wie er sagt,
     fast 40 Jahre Berufserfahrung. Aber immer noch nicht auf dem Marktwirtschaftskurs Westberliner
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