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Untitled

Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Unknown Author
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Tod aller Tode.
    Erinnerung streifte ihn, wie Licht aufblitzt an der Schneide eines Messers. Er hatte nur mehr eine Sekunde, keine zweite, eine halbe Sekunde vielleicht, und dann war unwiderruflich Schluß. Was störte nun die Tiefe seiner Seele, woher kam das jähe stählerne Strahlen? Leuchtete es ihm schon voran in die dunkle Höhle des Todes und der Vergessenheit? Er dachte mit einer so fiebrigen Schnelligkeit, daß sich sein ganzes Leben im Bruchteil einer Sekunde vor ihm versammelte. Aber den wichtigsten Augenblick in diesem Leben, das Kleinod, um das sich alle anderen, kleineren Steine, Stunden und Tage ansetzten – dies wiederzuerleben gelang nicht. Es war das Licht, die Offenbarung selbst, die unterging. Denn er wußte nun: es hatte in seinem Leben einen Augenblick gegeben, in dem sich alles erhellte. Und jetzt, da es zum Sterben ging, wurde er dieser höchsten Gabe heimtückisch beraubt. Mit der Geschicklichkeit eines genialen Geizhalses versuchte er das Unmögliche: er fing das letzte Glänzen der Sekunde wie einen Spiegel aus Glas und zersplitterte sie in unendlich winzige Teilchen. Nichts in seinem Leben konnte sich mit dem sinnlichen Entzücken vergleichen, das er inmitten dieses zertrümmerten, aufgelösten Bruchteils einer Sekunde schwebend empfand. Inmitten dieser funkelnden Splitter, in einem durchsichtig feinen Netz der Zeit sank er hinab und entdeckte voller Schrecken, daß es die Fähigkeit zur Erinnerung war, die er in sich zerschlagen hatte. Er fiel in die Leere, stürzte in das absolute Nichts, in die Nacht.
    Von seinen Träumen sinnlich erschöpft und verwüstet, beschloß August am nächsten Tage, sein Zimmer nicht zu verlassen. Erst gegen Abend zu rührte er sich. Er hatte den ganzen Tag im Bett verbracht, in einem teilnahmslosen Spiel mit den Bruchstücken seiner Erinnerung, die ihn noch wie ein Schwarm von Heuschrecken umschwirrten.
    Endlich gelang es ihm, diesem weiten, brodelnden Kessel zu entrinnen. Er zog sich an und ging fort, verlor sich müde in der Menge. Kaum entsann er sich des Namens der Stadt, durch deren Straßen er strolchte.
    An ihrem Rande stieß er auf eine Zirkustruppe, eine jener unsteten Banden, die ihr Leben auf der Achse verbringen. Augusts Herz begann stürmisch zu pochen. In großer Erregung näherte er sich einem der Wagen und stieg zaghaft die kleinen Stufen an seiner Rückseite empor. Er wollte an die Tür klopfen. Da hörte er das Wiehern eines Pferdes und hielt inne. Im selben Augenblick spürte er die Nüstern des Tieres in seinem Rücken. Eine tiefe Freude durch schauerte seinen Körper. Die Arme um den Hals des Tieres geschlungen, sprach er zarte, milde Worte, als grüße er einen lange verschollenen Freund.
    Die Tür des Wagens wurde mit einem plötzlichen Ruck geöffnet, und eine helle Frauenstimme unterdrückte einen Ausruf der Überraschung.
    »Ich bin's nur, August …« murmelte er außer Fassung.
    »August?« wiederholte die Stimme. »Kenne ich nicht.«
    »Entschuldigen Sie!« sagte er leise und schuldbewußt. »Ich gehe auch schon.«
    Aber er war noch keine fünf Schritte weit gekommen, als er die Frau rufen hörte.
    »He! August! Komm zurück! Warum läufst du weg?«
    Er blieb stehen, drehte sich um, zögerte einen Augenblick, dann floß ein Lächeln über sein Gesicht. Die Frau lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. August erschrak. Für eine kleine Sekunde hatte er das Bedürfnis zu fliehen. Aber es war zu spät. Die Arme der Frau umklammerten ihn bereits und hielten ihn fest.
    »August, August!« rief sie immer wieder. »Daß ich dich nicht gleich erkannt habe!«
    August erbleichte bei diesen Worten. Zum erstenmal wurde er auf seiner langen, einsamen, ziellosen Wanderung wiedererkannt.
    Die Frau hielt ihn wie in einem Schraub stock fest. Nun küßte sie ihn, erst auf eine Wange, dann auf die andere, dann auf die Stirn und schließlich mitten auf den Mund. August bebte wie ein Blatt im Wind.
    »Ich möchte gerne ein Stück Zucker«, bettelte er, als er sich befreien konnte.
    »Zucker?«
    »Ja, für das Pferd«, sagte August.
    Während die Frau in den Wagen zurückkehrte und auf der Suche nach Zucker im Innern rumorte, setzte sich August bequem auf den Stufen zurecht. Mit sanfter, zitternder Nüster liebkoste das Pferd seinen Nacken. Seltsames Zusammentreffen: gerade in diesem Augenblick stieg der Mond hinter den Bäumen am Horizont empor. Eine wunderbare Ruhe kam über August. Für einige wenige Sekunden – wenn es Sekunden waren – saß er
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