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Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Andrea Camilleri
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der Wind war im Winter auch kälter.«
    Hinsen klopfte den Schnee von seinem Wams. »Da haben Sie recht. Seit meiner Jugend hat die Welt sich verändert. Das Klima wird wärmer. Noch ein paar Generationen weiter, dann segeln unsere Schiffe über Land.« Er lachte über seinen eigenen Witz.
    Arflane wollte nicht die angenehme Stimmung zerstören, fühlte sich aber verpflichtet, etwas zu sagen. »Reden wir nichts, was die Mutter des Eises hören könnte, Freunde. Außerdem trifft Ihre Feststellung nicht zu. Das Klima ändert sich von Jahr zu Jahr, das mag sein; aber es wird ständig kälter. Das muß so sein. Die Welt stirbt.«
    »So dachten unsere Vorfahren und symbolisierten ihre Vorstellungen in dem Glaubensbekenntnis an die Mutter des Eises.« Petchnyoff lächelte versonnen. »Aber wenn es nun keine Mutter des Eises gibt? Angenommen, die Sonne wird ständig wärmer und verwandelt die Welt in das, was sie einmal war, bevor das Eis kam? Wenn es stimmt, daß diese Eiszeit nur eine von mehreren Eiszeiten ist? Das kann man in gewissen alten Büchern lesen, Kapitän.«
    »Ich bezeichne das als einen blasphemischen Unsinn«, sagte Arflane mit scharfer Stimme. »Sie wissen selbst, daß in diesen Büchern Dinge stehen, die nachweislich falsch sind. Ich für meine Person glaube nur an das Buch der Mutter des Eises. Sie kommt aus dem Zentrum des Universums und brachte das reinigende Eis. Eines Tages wird alles Eis, wird alles gereinigt sein. Schließen Sie daraus, was Sie wollen, aber Sie werden zugeben müssen, daß selbst die alten Bücher sagen, daß die Wärme verschwinden wird.«
    Hinsen musterte ihn mit einem sarkastischen Gesichtsausdruck.
    »Es gibt Anzeichen dafür, daß die alten Gedanken nicht zutreffen«, murmelte er. »Die Anhänger der Mutter des Eises sagen: ›Alles muß erkalten.‹ Aber wir haben in Friesgalt Gelehrte, die das Wetter erforschen, und sie behaupten, daß die Eishöhe während der letzten zwei, drei Jahre um einiges gesunken ist. Eines Tages wird die Sonne das Eis geschmolzen haben. Sie sagen auch, daß die Sonne schon wärmer geworden ist und die Tiere nach Süden ziehen, weil sie dort ein anderes Leben wittern. Leben wie die Pflanzen, die wir in den warmen Teichen finden, Arflane. Aber die Pflanzen wachsen dann nicht nur in den Teichen, sondern auch auf dem Land, das aus dem Eis hervorragt. Sie glauben weiter, daß diese ›Erde‹ schon irgendwo existiert, daß sie schon immer existiert hat, vielleicht auf den Inseln im Meer …« »Es gibt kein Meer!«
    »Die Gelehrten nehmen an, daß wir nie hätten überleben können, wäre nicht irgendwo ein Meer gewesen und auf Inseln wachsende Pflanzen.« »Nein!« Arflane kehrte Hinsen den Rücken zu.
    »Nein?« wiederholte Hinsen. »Aber die Vernunft sagt, daß es die Wahrheit ist.«
    »Die Wahrheit?« höhnte Arflane. »Oder eine verrückte Idee, die als Wahrheit propagiert wird? Es ist keine echte Logik in dem, was Sie sagen. Sie reden sich nur etwas ein, und Ihre Denkweise wird uns alle ins Unglück stürzen.«
    Hinsen schüttelte den Kopf. »Ich sehe darin eine Tatsache, Kapitän Arflane. Das Eis weicht auf – so wie wir allmählich aufweichen. Die Tiere wittern das neue Leben. Wir auch. Darum ändern sich unsere Vorstellungen. Ich sehne diese Veränderungen nicht herbei, wohlverstanden. Es tut mir sogar leid. Ich könnte nur die Welt lieben, die ich kenne. Ich werde in meiner Welt sterben, aber was werden unsere Nachkommen vermissen? Den Wind, den Schnee, das schnelle Eis, den Anblick einer Walherde auf der Flucht, den Kampf unter der roten Sonnenkugel, die wie erstarrt im blauen Himmel schwebt … Wo wird das alles sein, wenn das Eis geschmolzen ist und die schmutzige Erde mit ihrem grünen Gras zum Vorschein gekommen ist? Alles, was wir lieben und bewundern, wird sich in eine heiße, ungesunde Umgebung verwandelt haben. Was für eine unordentliche, unsaubere Welt wird es sein! Aber wir werden nichts dagegen tun können …«
    »Sie sind ja wahnsinnig!« entfuhr es Arflane. »Wie sollte sich das jemals ändern können?«
    »Vielleicht haben Sie recht, Kapitän. Aber wie ich die Dinge sehe, werden sie früher oder später eintreffen.«
    »Dann lehnen Sie sogar die Naturgesetze ab?« fragte Arflane spöttisch. »Jeder Narr muß einsehen, daß sich nichts aus eigener Energie erwärmen kann, wenn es erst einmal erkaltet ist. Sehen Sie sich doch einmal um! Einmal gab es hier dieses grüne Leben – das akzeptiere ich –, aber es erstarb. Kann ein
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