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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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spürte Marcel, tief in die Kissen seines Bettes gekrümmt, wie sein Herz sich vor Todesangst zusammenzog, denn er wusste, dass diese tiefe und schweigende Nacht nicht die natürliche und vorübergehende Verlängerung des Tages war, sondern etwas Schreckenerregendes, ein fundamentaler Zustand nach einer erschöpfenden, zwölfstündigen Anstrengung, in den die Erde zurückfiel und aus dem sie nie mehr entkommen würde. Die Morgendämmerung kündete nur einen erneuten Aufschub an und Marcel ging zur Schule, musste manchmal auf seinem Weg anhalten, um Blut zu erbrechen, wobei er sich selbst das Versprechen abnahm, nichts davon seiner Mutter zu sagen, die ihn nötigen würde, sich hinzulegen, um dann kniend an seiner Seite zu beten und kochend heiße Kompressen auf seinen Bauch zu legen, er wollte es nicht mehr zulassen, dass sein Dämon ihm die einzigen Dinge, die ihm Freude bereiteten, entzog, die Lektionen des Schulmeisters, die kolorierten Geographiekarten und die Majestät der Geschichte, die Erfinder und Wissenschaftler, die vor der Tollwut geretteten Kinder, die Dauphins und die Könige, alles, was ihm erlaubte zu glauben, dass es auf der anderen Seite des Meeres eine Welt gab, eine vor Leben nur so sprudelnde Welt, in der die Menschen noch andere Dinge zu tun verstanden, als ihre Existenz in Leid und Hoffnungslosigkeit weiterzuführen, eine Welt, die andere Wünsche aufkommen ließ als denjenigen, sie so schnell wie möglich zu verlassen, denn auf der anderen Seite des Meeres, da war er sich gewiss, feierte man seit Jahren die Thronbesteigung einer neuen Welt, derjenigen, der sich Jean-Baptiste 1926 anschloss und dabei lügen musste in Bezug auf sein Alter, um sich verpflichten, um das Meer überbrücken zu können und um endlich in Begleitung junger Männer, die zu Hunderten mit ihm flohen, ohne dass ihre schicksalsergebenen Eltern bei allem herzzerreißenden Abschiedsschmerz auch nur einen Grund gefunden hätten, sie zurückzuhalten, herauszufinden, was das eigentlich sein konnte, eine Welt. Zu Tisch, nah bei Jeanne-Marie, aß Marcel mit geschlossenen Augen, um Jean-Baptiste auf sagenhafte Ozeane zu folgen, dorthin, wo die Piratendschunken vor sich hin glitten, in heidnische Städte voller Gesang, Rauch und Geschrei, in duftende Wälder, die bevölkert waren von wilden Tieren und furchterregenden Ureinwohnern, die seinen Bruder mit Angst und Schrecken anblickten, als wäre er der unbezwingbare Erzengel, der Zerstörer der Plagen, erneut dem Wohl der Menschen ergeben, und beim Katechismus vernahm er, ohne etwas zu erwidern, die Lügen der Evangelisten, denn er wusste, was das war, eine Apokalypse, und er wusste, dass beim Weltuntergang sich der Himmel nicht öffnete, dass es da weder Reiter gab noch Trompeten noch die Zahl des Tieres, kein einziges Monster, sondern nur Ruhe, so still, dass man meinen mochte, es sei nichts passiert. Nein, nichts war passiert, die Jahre glitten dahin wie Sand und noch immer passierte nichts, und dieses Nichts breitete über alle Dinge die Macht seiner blinden Herrschaft aus, einer tödlichen und ungeteilten Herrschaft, von der niemand mehr sagen konnte, wann sie angefangen haben mochte. Denn die Welt war bereits in jenem Moment verschwunden, als diese Photographie im Sommer 1918 aufgenommen worden war, damit etwas bliebe, die Ursprünge zu bezeugen und auch das Ende, sie war verschwunden, ohne dass es jemand bemerkt hätte, und es ist vor allem seine eigene, unter allen an diesem Tag mittels Silberchlorid aufs Papier gebannten Abwesenheiten die rätselhafteste und furchtbarste, die Marcel sein ganzes Leben lang betrachtet hat und dabei immer wieder die Spur verfolgte im milchigen Weiß der Abschattierungen auf den Gesichtern seiner Mutter, seines Bruders und seiner Schwestern, auf Jeanne-Maries schmollender Schnute, in der Bedeutungslosigkeit ihrer armseligen menschlichen Anwesenheit, während der Boden unter ihren Füßen schwindet und sie Gespenstern gleich zu schweben zwingt in einem abstrakten und unendlichen Raum, der weder Ausweg kennt noch Richtungen, ein Raum, in dem sogar die Liebe, die sie miteinander verband, niemanden von ihnen retten konnte, denn wo die Welt abwesend, da ist die Liebe selbst machtlos. In Wahrheit wissen wir nicht, was die Welten sind noch wovon ihre Existenz abhängt. Irgendwo im Universum ist vielleicht das rätselhafte Gesetz eingeschrieben, das ihre Entstehung lenkt, ihr Wachstum und ihr Ende. Aber wir wissen dies: Damit eine neue Welt entsteht,
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