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Unter dem Weltenbaum - 01

Unter dem Weltenbaum - 01

Titel: Unter dem Weltenbaum - 01
Autoren: Douglass Sara
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die Zehntausende von Bannern, Wimpeln und Fahnen auch aussahen, die im Wind flatterten, die Karloniter aßen und verdauten ebenso wie alle anderen Geschöpfe. So ernährten die Müllgruben vor der Stadt zahllose Mäuse und Ratten, und diese wiederum dienten Tausenden von Adlern und Falken als Nahrung.
    Der große Vogel hatte sich schon früh am Morgen ausreichend gesättigt, und nichts drängte ihn danach, sich jetzt schon wieder den Bauch vollzuschlagen. So ließ er sich ostwärts über den Gralsee treiben, bis er die Stelle erreichte, wo der weißgekalkte siebenseitige Turm des Seneschalls über hundert Schritt hoch in den Himmel ragte, um die Sonne zu begrüßen.
    Hier verlagerte der Vogel sein Gleichgewicht, stellte die Flügel senkrecht und bog langsam nach Norden ab, um dort ein schattiges Plätzchen für den Nachmittag zu suchen. Der Adler war alt, weise und erfahren. Daher wußte er, daß er sich in diesem fast baumlosen Land wahrscheinlich wieder auf irgendeinem Bauernhof mit der Regenrinne eines Schuppens zufriedengeben müßte.
    Auf dem Weg dorthin dachte der Aar über die Gedanken und Taten der Menschen nach, die Bäume so sehr fürchteten, daß sie fast alle Wälder abgeholzt hatten, die einst dieses weite Land dicht bedeckt hatten. Denn so verlangten es von ihnen Axt und Pflug.
    Tief unter dem sinnenden Adler lief Jayme in seiner Kammer in den oberen Stockwerken des Seneschallturms auf und ab.
    »Diese Neuigkeiten sind höchst beunruhigend«, murmelte der Bruderführer der religiösen Bruderschaft des Seneschalls und damit oberster Vermittler zwischen dem guten Gott Artor dem Pflüger und den Herzen und Seelen der Achariten. Tiefe Sorgenfalten durchzogen sein gütiges Gesicht. Jahrelang hatte er sich geweigert, das Amt anzutreten, mochten seine Mitbrüder ihn noch so sehr drängen. Heute, fünf Jahre nachdem er sich endlich ihren Wünschen gebeugt und eingesehen hatte, daß es Artors eigener Wille war, ihn auf dem Vermittlerstuhl zu sehen, plagten ihn grundlegende Sorgen. Vielleicht wäre gerade er es, der den Seneschall – nein, das ganze Reich – durch dessen größte Krise seit tausend Jahren führen mußte. Jayme blieb stehen und schaute aus dem Fenster. Obwohl der Todlaubmond gerade erst begonnen und den Herbst eingeläutet hatte, wehte schon seit Tagen ein frostiger Wind. Man mußte bereits die Fensterläden geschlossen halten, um die Kälte auszusperren. Ein Feuer prasselte in der mit gesprenkeltem Marmor verkleideten Feuerstelle hinter seinem Schreibtisch, und das Licht der Flammen hob die goldenen Verzierungen am Stein hervor, ebenso wie das Silber, das Kristall und das Gold auf dem Kaminsims.
    Der jüngere seiner beiden Gehilfen trat vor. »Glaubt Ihr denn, Bruderführer, daß die Berichte der Wahrheit entsprechen?«
    Der oberste Vermittler wandte sich vom Fenster ab, um Gilbert zu beruhigen. Der junge Bruder schien noch dazu zu neigen, allzuleicht in Panik zu geraten. Aber wer wußte schon, ob ein solcher Hang ihm in den nächsten Monaten nicht noch von Nutzen sein könnte? »Mein Sohn, so viele Generationen sind vergangen, seit jemand zuverlässig Unaussprechliche gesehen hat. Wer vermag da schon zu sagen, ob diese Kunde nicht von abergläubischen Bauern herrührt, die sich in der Dämmerung vor herumtollenden Hasen erschrocken haben?«
    Gilbert rieb sich das geschorene Haupt und warf einen Blick auf Moryson, den obersten Gehilfen und ersten Ratgeber des Vermittlers, bevor er wieder das Wort ergriff. »Aber viele dieser Berichte stammen von unseren Brüdern, Bruderführer!«
    Jayme unterdrückte die Entgegnung, daß die meisten der Brüder in der Nordzuflucht bei der Stadt Gorken selbst kaum mehr als abergläubische Bauern waren. Aber der Gehilfe hatte noch viel zu lernen und hatte sich noch nie weit von der Pracht und Behaglichkeit Karlons wegbewegt. So kannte er nur die fromme und geistige Atmosphäre des Seneschallturms, wo man ihn aufgezogen und dem Orden übergeben hatte, um fortan Artor zu dienen.
    Davon abgesehen befürchtete Jayme, daß die verängstigten Brüder in Gorken doch mehr als ein paar herumspringende Hasen gesehen hatten. Schließlich waren auch Meldungen aus dem Dorf Smyrdon eingetroffen, das hoch oben im Nordosten lag, und die galt es ebenfalls zu berücksichtigen.
    Der Vermittler seufzte noch einmal und ließ sich in seinem bequemen Sessel hinter dem Schreibtisch nieder. Zu den Annehmlichkeiten des höchsten religiösen Amtes im Reich gehörte zweifellos die
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