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Unter dem Weltenbaum - 01

Unter dem Weltenbaum - 01

Titel: Unter dem Weltenbaum - 01
Autoren: Douglass Sara
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ergötzten sich an der Furcht der Frau. Sie mußten sich nicht beeilen, denn die Beute war ihnen gewiß. Doch seltsamerweise zuckte die Frau mitten im Schritt zusammen, drehte sich um sich selbst und fiel zu Boden. Dort wand sie sich und hielt sich den auf und ab schwellenden Leib. Diese unerwartete Entwicklung verblüffte die Geister. Sie verlangsamten ihre Schritte, um nicht in die Beute hineinzurennen, und umzingelten sie in so weitem Abstand, daß sie den schlagenden Armen entgingen.
    Die Frau schrie. Ein Laut, der aus den Tiefen ihres Leibes zu kommen schien und so voller Entsetzen war, daß die Wesen vor Verzücken stöhnten.
    Sie wandte sich an den nächsten Geist und streckte eine Hand aus, um Gnade zu erlangen. »Hilfe«, ächzte sie, »so helft mir doch, bitte!«
    Nie zuvor hatte jemand die Skrälinge um Hilfe gebeten. Verwirrt umkreisten sie die Beute. Hatte sie am Ende keine Angst mehr vor ihnen? Das konnte doch nicht sein! Zitterte nicht jedes Wesen aus Fleisch und Blut vor ihnen? In Gedanken verständigten sie sich miteinander, und schon stellte sich ihnen die Frage, ob sie sich nicht langsam fürchten sollten.
    Die Frau zuckte heftig zusammen, und der Schnee um ihre Beine und ihren Bauch färbte sich hellrot.
    Der Geruch und der Anblick frischen Bluts verfehlte seine Wirkung auf die Wesen nicht und gab ihnen ihre Gewißheit zurück. Diese Beute würde rascher sterben, als sie anfänglich erwartet hatten. Ganz von selbst. Und ohne Zutun ihrer scharfen, spitzen Klauen und Zähne. Schade eigentlich, aber ihr Fleisch würde ihnen immer noch munden. Die Geister trieben im eisigen Wind um die Frau herum und beobachteten sie. Sahen zu und verfolgten ihr Tun.
    Nach einer Weile stöhnte die Beute leise auf und lag dann ganz still da. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren, die Augen standen offen und wirkten glasig, und die Hände öffneten sich langsam.
    Die Wesen hüpften auf und ab, während der Sturm durch sie hindurchfuhr, und berieten sich. Die Jagd hatte doch so vielversprechend begonnen, und die Beute hatte sich gefürchtet, wie man es von ihr erwarten durfte. Doch jetzt war sie auf unerklärliche Weise gestorben.
    Der mutigste unter den Fünfen schwebte auf die Frau zu und betrachtete sie schweigend. Doch schließlich konnte er dem süßlichen Geruch des Blutes nicht länger widerstehen. Er beugte sich hinab, um mit seiner geisterhaften Klauenhand an den Lederriemen des Langhemds zu zerren. Nach einer Weile lösten sie sich, und der mutige Geist erlebte eine solche Überraschung, daß er rasch in den schützenden Kreis seiner Kameraden zurücksprang.
    Mitten in der blutigen Masse, die einmal der Bauch der toten Frau gewesen war, lag ein Kind und starrte die Wesen trotzig an. Haß schien aus jeder seiner Poren zu strömen.
    Der Säugling hatte sich nach draußen gefressen!
    »Ooooh!« seufzten die Geister entzückt, und der Mutigste wagte sich wieder vor, um das bluttriefende Kind hochzuheben.
    »Es haßt«, verkündete er den anderen. »Spürt ihr es auch?«
    Die anderen kamen näher, und so etwas wie Zuneigung zeigte sich in ihren trüben Augen.
    Der Säugling wandte ihnen das hauerbewehrte Gesicht zu und starrte sie wieder zornig an. Er rülpste, und schaumige rote Blasen bildeten sich in seinen Mundwinkeln.
    »Aaaah!« seufzten die Skrälinge und drängten sich um das Kind. In ihren Gedanken trafen sie eine spontane Entscheidung. Sie würden den Säugling zu sich nehmen. Ihn ernähren und ihn lieben lernen. Und irgendwann in der Zukunft, die noch so weit entfernt lag, daß sie die Jahre nicht zählen konnten, würden sie das Kind anbeten.
    Doch jetzt hatten sie erst einmal Hunger, und gutes Futter ließ man nicht einfach liegen. Ungeachtet der späteren Verehrung warfen sie das Kind in den Schnee, wo es vor Wut schrie, während sie selbst sich über die tote Mutter hermachten.
    Sechs Wochen danach …
    Jenseits des Gebirges stapfte eine andere Frau, die sich in Rasse und Umständen von der ersten unterschied, durch die Schneewehen an den westlichen Hängen der Eisdachalpen.
    Sie stürzte schwer über einen vom Schnee verborgenen Stein, und als sie nach einem Halt suchte, riß sie sich auch noch den letzten Nagel von ihren einst weichen weißen Händen ab. Die Frau drängte sich an den überfrorenen Fels, saugte an dem Finger, stöhnte verzweifelt und kämpfte angesichts der Kälte und der Schwere ihres Herzens mit den Tränen. Einen Tag und eine Nacht lang hatte sie mit allen Kräften versucht, am
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