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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis
Autoren: Gisa Klönne
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dir einen Espresso und nimm dir ein Taxi.«
    Die Kellnerin wird endlich auf ihn aufmerksam und kommt an Mannis Tisch, er lächelt entschuldigend und entwindet ihr wortlos Block und Stift, um die Adresse zu notieren, die Thalbach diktiert.

    Unten fällt die Haustür ins Schloss. Judith kann den Blick nicht von Charlottes Puppensammlung lösen. Es ist, als würden diese starren Kinderimitationen mit den bunten Kleidern sie hypnotisieren, als stehe sie einer glasäugigen Zeitmaschine gegenüber. Sie weiß, dass sie schon einmal in diesem Zimmer gewesen ist, vor Jahrzehnten. Wie alt war sie damals? Vierzehn oder so. Es war ein nassgrauer Tag im Mai, kurz nach Charlottes Geburtstag. Sie und Charlotte sind beinahe gleich alt, Jahrgang 66. »Herzlichen Glückwunsch«, sagt sie laut, um ihr Unbehagen angesichts dieses Kinderzimmers abzuschütteln, das in seiner Vergangenheit erstarrt zu sein scheint wie in Gelatine.
    Bei der Geburtstagsfeier hatte Charlottes Mutter Rhabarberkuchen mit Schlagsahne und Kakao serviert. Es hatte Kerzen und Blumen gegeben, Geschenke natürlich, und trotzdem war keine Stimmung aufgekommen. Die anderen Mädchen stießen sich unter dem Tisch an und kicherten. Sie kanntensich schon seit der fünften Klasse, eine eingeschworene Gemeinschaft, nur Charlotte und Judith waren neu, zugezogen, außen vor. Am nächsten Tag auf dem Schulklo belauschte Judith, wie sich die Mitschülerinnen rauchend in einer der Kabinen drängten und über Charlotte lästerten. Über ihre weiße Spitzenbluse und die Puppen. Darüber, dass es kein Eis gegeben hatte, keine Schokoriegel, keine Cola und keine Musik – überhaupt nichts von alldem, was in war. Und natürlich war es nicht bei diesem Getuschel geblieben. In den Wochen nach Charlottes Geburtstagsfeier hörten die Mitschülerinnen einfach auf, mit ihr zu sprechen. Taten so, als existiere sie nicht. Charlotte hatte Judith zu sich eingeladen, hatte sich im Unterricht neben sie gesetzt, ihr auf dem Pausenhof Geheimnisse anvertraut – was Mädchen eben so tun. Judith fand Charlotte ein wenig wunderlich, aber durchaus nicht blöd oder langweilig. Trotzdem hatte sie aufgehört, sich mit ihr zu treffen. Und dann hatte sie sie verraten. Oder etwa nicht?
    Judith steigt die Treppe hinunter zurück ins Parterre, füllt in der Küche ein Glas mit Leitungswasser und setzt sich auf die sonnenwarme Steintreppe, die von der Terrasse in den Garten führt. Die Hitze macht ihren Körper schwer und träge und zieht die Gedanken in die Ferne. Ihr ist immer noch flau im Magen. Sie versucht, die Erinnerungen an Charlotte und ihre Puppen beiseite zu drängen und stattdessen an einen blaugrünen Badesee zu denken, an irgendeine harmlose, unkomplizierte, gegenwärtige Sommerphantasie. Es gelingt ihr nicht.
    Sie ist nicht lange mit Charlotte und Berthold zur Schule gegangen, zwei Jahre bloß. Dann hatte ihr rastloser Vater schon wieder einen neuen Job, in Bremen diesmal, und so waren sie ein weiteres Mal umgezogen. Judith erinnert sich nicht gerne an jene Zeit, in der sie den Entscheidungen ihrer Eltern ausgeliefert war. Ihr eigentliches Leben, so kommt es ihr immer vor, begann erst mit dem Schulabschluss. Gleich nach dem Abitur ist sie zurück nach Köln gezogen, nicht aus Nostalgie, sondern weil sie an der juristischen Fakultät einen Studienplatz bekommen hatte. Trotzdem war sie vom ersten Tag an entschlossen, Köln zu ihrer Heimat zu machen. Regelrecht berauscht war sie damals von dem Gedanken, niemehr umziehen zu müssen, wenn sie es nicht wollte; sich ein Leben aufzubauen, einen Freundeskreis, wie es ihr gefiel. Ein Wiedersehen mit alten Kölner Schulkameraden allerdings gehörte nicht zu ihrem Plan, also hatte sie es vermieden.
    Judith dreht sich eine Zigarette. Im Grunde genommen weiß sie nichts von ihrer ehemaligen Mitschülerin, und vermutlich ist es nicht nur falsch, sondern auch anmaßend, zu denken, dass ein paar geteilte Erlebnisse als Teenager und ihre eigene unrühmliche Rolle damals irgendeinen Einfluss auf Charlottes Leben gehabt haben könnten – oder gar auf ihr Verschwinden. Aber verschwunden ist Charlotte, so viel steht fest. Jedenfalls scheint niemand sie in den letzten sieben Wochen gesehen zu haben. Judith zündet ihre Zigarette an und genießt das vertraute Prickeln des Nikotins in ihren Lungen. Was ist mit Charlotte passiert? Wie ist ihr Leben verlaufen? Ist es möglich, dass sie hier im Mausoleum ihres Elternhauses glücklich war? Ist ihr Verschwinden die
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