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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis
Autoren: Gisa Klönne
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Schultern. »Per Dauerauftrag? Ich habe keine Ahnung.«
    Judith sieht sich um. Über dem nietenbeschlagenen Ledersofa hängt ein schweres Ölbild mit Goldrand. Rotbefrackte Reiter, die ihren hysterisch wirkenden Pferden den Kopf in den Nacken reißen, Jagdhunde mit blutigen Lefzen, ein fliehender Hirsch.
    »Dieses Haus wirkt nicht gerade jugendlich.«
    »Die Einrichtung stammt noch von Charlottes Vater.« Berthold spricht, als wolle er die verschwundene Schulkameradin verteidigen, mit der er, im Gegensatz zu Judith, bis heute in Kontakt geblieben ist. Befreundet, wie er sagt.
    »Ist ihr Vater tot?«
    »Seit einem Dreivierteljahr, ja.«
    »Genug Zeit, was zu ändern.«
    »Charlottes Zimmer sind oben. Schau dich doch einfach in Ruhe um. Ich muss leider noch mal weg.« Er sieht sie nicht an.
    »Du willst mich hier allein die Leiche suchen lassen?«
    Seine rosige Gesichtshaut wird eine Spur blasser, seine fleischige Rechte landet auf seiner Brust. »Hier ist keine Leiche, ich habe schon alles abgesucht, sogar den Keller.«
    »Sehr beruhigend.«
    »Es geht wie gesagt darum, herauszufinden, wo Charlotte hingefahren sein könnte.«
    »Und du hast wirklich keine Idee …«
    »Ich bring dich hoch, aber dann muss ich los. Ein Systemfehler in der Firma, das konnte ich nicht vorhersehen, ohne mich sind die aufgeschmissen.«
    »Hattest du nicht gesagt, sonntags hättest du auf jeden Fall frei?«
    »Tut mir leid. Für Computer ist das ein Tag wie jeder andere.«
    Er führt sie eine Treppe hinauf, weiter hinein in den abgedunkelten Kosmos der Charlotte Simonis. Ein brauner Teppich, der mit Messingstangen über die Stufen gespannt ist, schluckt ihre Schritte. Der Geruch nach Desinfektionsmittel und Mottenkugeln wird stärker, der See, von dem Judith eben noch geträumt hat, erscheint mehr und mehr wie eine Fata Morgana.
    »Hier.« Berthold öffnet eine weißlackierte Holztür. Der Raum ist dämmrig, muffig und warm. Judith findet den Lichtschalter und zuckt zurück. Glasige Puppenaugen starren sie an, katapultieren sie in eine Zeit, die sie lieber vergessen wollte. Erinnern sie daran, dass sie etwas wiedergutzumachen hat, obwohl es dafür vermutlich zu spät ist. Im nächsten Moment ergreift Bertholds Sorge um die gemeinsame Schulkameradin Besitz von Judith, schleicht sich in ihren Körper wie ein Gift. Warum hat Charlotte ihre Puppen aufgehoben? Was sagt das aus über ihr Leben? Etwas ziehtin Judiths Bauch und die stickige Hitze in dem Mansardenzimmer macht das nicht besser.

    Schmeißfliegen summen. Eine Grille sägt ihre misstönenden Lockrufe nach einem Partner in den Tag. Unbarmherzig beißt die Sonne in Elisabeths Nacken und Unterarme. Sie stützt sich einen Moment lang auf ihren Spaten und holt Luft. Rotschwarze Kreise tanzen vor ihren Augen. Sie muss wahnsinnig sein, in dieser Hitze ein Grab zu schaufeln. Aber natürlich hat sie gar keine Wahl. Sie hat Barabbas zu Hause eingesperrt, hat sein Protestgewinsel ignoriert, als sie sich mit Spaten und Koffer erneut auf den Weg in das Wäldchen machte. Sie beginnt wieder zu graben, stellt mit Befriedigung fest, dass das Loch bald tief genug sein wird. Es gibt keinen anderen Weg, denkt sie. Ich muss das hier zu Ende bringen. Barabbas’ Sünde vergessen machen.
    Der Rauhaardackel liegt neben ihr im Sand. Seine glasigen Augen scheinen sie zu beobachten. Jetzt landet eine Fliege in seinem Augenwinkel. Elisabeth hebt den Spaten und verscheucht sie, aber das Insekt ist hartnäckig. Wieder und wieder kehrt es zurück. Natürlich tut es das, denkt Elisabeth. Es will fressen. Fressen und für seine Brut sorgen, so ist das Leben eben. Die Vorstellung, dass sich alsbald Fliegenmaden an den Dackelaugen gütlich tun werden, lässt ihren Magen revoltieren, obwohl sie auf einem Bauernhof groß geworden ist und weiß Gott nicht zimperlich ist. Sie sticht den Spaten in den Sand und sinkt mit einem Ächzen auf die Knie. Komm, kleiner Hund, bringen wir es hinter uns. Zumindest vor den Fliegen kann ich dich schützen.
    Sie öffnet den Deckel des Kinderreisekoffers und nimmt eines der alten Frotteelaken heraus, die ihr als Leichentücher dienen. Sie zieht den Dackel darauf. Er sieht so klein aus, ist aber schwer. Elisabeth schmeckt Magensäure auf der Zunge. Barabbas’ Biss ist in dem weichen, strubbeligen Fell kaum noch zu erkennen. Wieder versucht eine grün schillernde Fliege ihr Glück. Schnell hebt Elisabeth den Dackel in seinenrotgrün karierten Sarg. Immer noch sieht er sie an. Aber das ist
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