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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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warteten?
    Außer, dass er – laut Sarah – in festen Händen war, wusste ich wenig von ihm. Eine Information, die sie mir sofort gesteckt hatte, als er zum Beginn des Halbjahrs auf unsere Schule gekommen war. Eine Information, deren Quelle sie nicht preisgeben wollte. Eine Information, die völlig irrelevant für mich war, und ich hatte mit einem kühlen «Na und?» reagiert. Sarah stachelte das erst recht an. Nach kurzer Zeit hatte sich jedoch ihr Interesse gelegt, wahrscheinlich, weil sie sich die Zähne an ihm ausgebissen hatte. Ausdauer gehörte nicht zu Sarahs Stärken.
    Eine Klasse über uns und süß war er, das jedenfalls stand fest, und mein «Na und?» war ein reines Ablenkungsmanöver gewesen.
    «Hab ich dich erschreckt?», fragte er.
    Natürlich hatte er das. Ich schüttelte den Kopf. Der fruchtige Duft der Goldregenbüsche fuhr wie ein kühler Schauer über meinen Rücken. Er zupfte ein paar Blüten aus den Haaren, dunkle Locken, die ihm tief in die Stirn hingen.
    «Das wollte ich nicht», sagte er.
    Eine letzte Blüte wollte sich nicht von ihm trennen. Meine Hand zuckte, um sie zu greifen, aber ich brach die Bewegung auf halbem Weg ab. «Steht dir gut», sagte ich.
    Er lächelte. Ein schiefes, verzogenes Lächeln, das mir schon ein paarmal an ihm aufgefallen war. Es wurde begleitet von einem Tippeln, linker Fuß, rechter Fuß, kick nach etwas, das nur er sehen konnte. Mit einer Hand zog er die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf; sein Gesicht verschwand im Dunkeln. Als habe er es selbst erkannt, schob er sie wieder zurück und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
    Der Bus erlöste ihn. Er kurvte in die Haltebucht, mit einem Zischen öffnete sich die Tür, und Musik strömte nach draußen. Bugsie hatte abends immer diesen Sender drin. Swing, Filmmusik, Chansons von vor fünfzig oder mehr Jahren. Die muffige Luft von unzähligen Leuten, die Bugsie den regnerischen Tag über transportiert hatte, mischte sich mit dem Körpergeruch des Fahrers. Kein schönes Gefühl.
    Felix ließ mir den Vortritt. Wir waren die einzigen Fahrgäste. Ich nahm den Platz gleich in der ersten Bank. Mir wurde schlecht, wenn ich nicht sehen konnte, wohin wir fuhren, besonders im Dunkeln. Felix ging leider zwei Reihen weiter nach hinten. Ein Tusch beendete das Stück im Radio.
    «Alles original», sagte Bugsie. «Noch echte Musik, hörste? Nich’ wie heute, der ganze Dreck aus dem Computer und so … da, Posaunen, haste gehört?»
    Ich nickte, kramte mein Buch aus der Tasche, schaute mich um und verstaute es wieder. Lesen im Bus hatte eigentlich dieselbe Wirkung wie zu weit hinten sitzen. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter. Nicht schnell genug. Felix fing ihn auf und erwiderte ihn mit seinem schiefen Lächeln. Er fingerte seinen MP 3 -Player aus der Tasche und drehte die Lautstärke voll auf.
    Am liebsten wäre ich hingegangen.
    Neben ihn setzen, einen Ohrstöpsel nehmen, den Kopf an seine Schulter legen, die Augen schließen, seine leisen Regungen spüren, wenn er mit der Musik wippte, hoffen, dass sein Geruch etwas Schönes mit mir machte. Einen winzigen Augenblick spielte ich mit diesem Gedanken. Einfach die ganzen Regeln über den Haufen werfen.
    Wie und wann und in welcher Reihenfolge, wer, mit wem, was tun darf, wenn man sich kennenlernt. Ganz bestimmt war ich nicht diejenige, die sich über die Regeln hinwegsetzte und den ersten Schritt machte. Wie sehr wünschte ich mir, in so etwas lässiger zu sein, wie Sarah, die sich grundsätzlich nahm, wonach ihr war.
    Eigentlich war Felix genau der Richtige, um Regeln, für die keiner richtig verantwortlich sein wollte, Regeln sein zu lassen.
    Er wirkte müde, noch blasser als sonst, was aber auch an der fahlen Innenbeleuchtung des Busses liegen konnte. Felix grinste, zog die Kapuze seines Sweatshirts tief in die Stirn und lehnte den Kopf an die Scheibe. Mit geschlossenen Augen folgte er den Gitarrensounds, die sich leise klirrend einen Weg nach draußen bahnten.
    Sein Vater war Italiener, und er hatte nichts von den Knollennasen und den kantigen Gesichtszügen der Einheimischen hier, keine roten Wangen, keine struppigen Straßenköterhaare. Darin waren wir uns ähnlich: Meine kupferroten Haare, die sich nur mit Tüchern und Spangen oder in einem Pferdeschwanz bändigen ließen, passten auch nicht hierher.
    Ich fragte mich, was Felix an dieser Haltestelle gemacht hatte.
    «Fly me to the moon, let me play among those stars, let me see what spring is
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