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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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musst du dich, dachte er, aber das war er nicht gewöhnt.
    Ein Wesen, das war das richtige Wort für sie, weil sie so etwas Unwirkliches hatte, nicht so billig wie die anderen, die er oft auf der Straße sah, gleich gegenüber dem Büro konnte er sie von seinem Fenster aus Tag für Tag beobachten, eine wie die andere, schmal, dünn, glatte lange Haare, meistens an der Seite gescheitelt, wer schrieb ihnen eigentlich vor, dass sie alle diese Frisur und enge, tiefsitzende Jeans zu tragen hatten, enge T-Shirts, weit über die Hüften gezogen, aber mit einem Ausschnitt, so tief?
    Nun, was gingen sie ihn an? Sein Mädchen war anders, und es hatte es verdient, dass er es ihm schönmachte.
    Dieser Raum sollte mehr sein. Schon auf den ersten Blick warm und kuschelig, eine Heimat, das war etwas anderes als einfach nur die Bude eines Teenagers. Sagte man das überhaupt noch? Teenager? Eigentlich war sie doch schon eine junge Frau. Sie hatten so viel Zeit verloren, aber nun war sie da.
    Man konnte viel mit Licht machen, Licht war sehr wichtig, vielleicht noch wichtiger als die Farben. Licht und die richtigen Stoffe. Viele Kissen und Decken, auf dem Bett, auf dem Sessel aus lindgrünem Plüsch. Helles Grün, viel Weiß, hier und da ein Tupfer Rosa, eher Altrosa, sie sollte sich nicht wie eine Barbiepuppe fühlen, indirekte Beleuchtung und zwei Leuchtröhren, die perfekt Tageslicht simulierten.
    Zu ihrem Empfang hatte er ein Stück von Frederic Chopin aufgelegt, das Nocturne Nr.  1 in e-moll, einen kurzen Moment hätte er fast der Schmetterlings-Etüde den Vorzug gegeben, aber irgendwie hatte es nicht dem Anlass entsprochen, zu wenig feierlich, zu verspielt, flirrend, ein Schmetterling halt.
    Das Bild auf dem Überwachungsmonitor ermöglichte ihm, jeden Winkel des Raums zu beobachten. Sie hatte sich im Sessel zusammengekugelt und die Decke über den Kopf gezogen. Wahrscheinlich steckten die Ohrhörer des MP 3 -Players tief in ihrem Gehörgang; das tat sie immer, wenn sie sich seinen Blicken entziehen wollte. Das mochte er nicht, aber er wusste, dass ein Mädchen in ihrem Alter das brauchte.
    Er schaute auf die Uhr. Es war höchste Zeit.
    Er überprüfte den Riegel an ihrer Zimmertür, dann schlüpfte er in die Regenjacke. Das Wetter war wirklich fürchterlich. Wenn es nicht bald besser würde, gäbe es wieder Ärger mit dem durchsickernden Wasser. Er stapfte durch das feuchte Moos, überquerte die schmale Lichtung, immer auf anderen Wegen, das war wichtig, keine ausgetretenen Pfade, darauf achtete er. Die Natur hatte sich das Gelände zurückgeholt. Es war nicht zu erwarten, dass jemand sich hierher verirrte, alleine schon, weil es im Umkreis von fünfzehn Kilometern kein bewohntes Gebäude gab. Nur ein einziges Mal hatte er ein paar Rotzlöffel mit dem Gewehr vertreiben müssen. Wenn er daran dachte, musste er lachen, wie waren sie gerannt und dann auf ihre Mountainbikes gesprungen!
    Im Haus hielt er sich nicht lange auf. Die Milch wärmte er in der Mikrowelle auf, gab einen ordentlichen Klecks Honig hinein, das war schön, wie der goldgelbe Saft in dicken Tropfen hinab in die heiße Flüssigkeit glitt, um sich fast sofort aufzulösen. Die Tüte mit den Mandelkeksen war leer, wie schade, die mochte sie, aber ein Schokobrownie war auch nicht schlecht, das musste sie einsehen, doublechoc, sie war nicht undankbar, und morgen würde er wieder ihre Lieblingsplätzchen besorgen.
    Ein paar Minuten später öffnete er die Stahltür zu ihrem Zimmer.
    «Kleines, es ist Zeit», sagte er.
    Sie rührte sich nicht.
    «Das ist doch gar nicht schön, wenn du die Musik so laut machst, und es schadet deinen Ohren, auch wenn es Chopin ist», murmelte er.
    Er zog die Decke von dem Sessel; sie war mit üppigen Pfingstrosen bedruckt, ein bisschen altmodisch vielleicht für ein so junges Mädchen, dachte er. Einen kurzen Augenblick verstand er nicht. Das Licht war schummrig, um diese Zeit schaltete es sich automatisch auf Abendstimmung.
    Das Tablett entglitt seiner Hand.
    Milch ergoss sich über die Pfingstrosen, die Sessellehne; sie zog Schlieren, als sie sich mit dem Blut auf der Sitzfläche vermischte.
    «Was hast du getan?», schrie er.
    Sie antwortete nicht.

3
    Ich zuckte zusammen. «Felix!», entfuhr es mir, als ich erkannte, wer aus dem Schatten getreten war. Felix Diuso. Hatte er dort auf mich gewartet? Was machte er hier, an einem Dienstagabend, an dem im Umkreis von fünf Kilometern nur ein Altenheim und Langeweile auf ihn
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