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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Autoren: Christian Keysers
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scheinbar philosophische Frage ist sehr alt, doch jahrhundertelang hatte sich die Forschung auf explizite, logische Lösungen konzentriert, die keine befriedigende Antwort lieferten. Jetzt hatte die Neurowissenschaft ein Phänomen entdeckt, das ein neues Licht auf die Debatte warf; dem, was das Sehsystem entdeckt, wird Bedeutung zugewiesen, indem es mit unserem eigenen Handeln verknüpft wird. Sobald ich den Anblick von jemandem, der nach einem Stück Schokolade greift und es zum Mund führt, mit meiner Fähigkeit, das Gleiche zu tun, verknüpfe, ist das, was ich sehe, kein abstrakter, bedeutungsloser Eindruck. Das Wissen, wie man Schokolade isst, wird mit dem Bild der Handlung (das beobachtete Schokoladeessen) verknüpft, wodurch das, was das Sehsystem entdeckt, eine sehr pragmatische Bedeutung erhält. Wenn ich Ihnen einen neuen Segelknoten zeigte und Sie fragte: »Kapiert?«, könnten Sie mir am überzeugendsten beweisen, dass Sie meine Demonstration verstanden hätten, indem Sie den Knoten vor meinen Augen knüpfen würden. Spiegelneuronen, die den Anblick einer Handlung mit dem an ihr beteiligten motorischen Programm verbinden, leisten genau dies, indem sie, was Sie sehen, umwandeln in das Wissen, wie es getan wird.
    Ich war so fasziniert von dieser Entdeckung, dass ich mich um ein Stipendium bewarb, um mit der parmesischen Gruppe forschen zu können. Ein Jahr später, zwei Wochen, nachdem ich die endgültige Fassung meiner Dissertation abgegeben hatte, traf ich mit einem Auto voller Kartons und einem Kopf voller Ideen in Parma ein.
    Ich fuhr meinen alten Golf und den Anhänger, der die lange Fahrt von Schottland nach England, auf die Fähre, durch Belgien, Deutschland und die Schweiz kaum überlebt hatte, zu einem neuen Gebäude knapp außerhalb des Stadtzentrums von Parma, gleich neben dem großen Krankenhaus der Stadt. Das moderne dreistöckige Gebäude hatte vor Kurzem das alte Bauwerk ersetzt, in dem zehn Jahre zuvor die ersten Spiegelneuronen entdeckt worden waren. Vittorio führte mich herum, bot mir einen Kaffee aus der kleinen Espressomaschine an, dem Mittelpunkt des sozialen Lebens im Institut, und zehn Minuten später waren wir im Labor.
    Das Erste, was ich hörte, war das Maschinengewehrfeuer. Dann sah ich zwei Forscherinnen – Alessandra Umiltà und Evelyne Kohler –, die vor den Augen eines Affen Papierbögen zerrissen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen – ich musste mein erstes Spiegelneuron testen. Nachdem ich beobachtet hatte, wie ein Affe eine Erdnuss nahm, und die Aktivität des Neurons im Verstärker gehört hatte, nahm ich selbst eine Erdnuss, woraufhin das Neuron des Affen erneut feuerte. Ich war verblüfft. Lächelnd meinte Alessandra: »Ist doch was anderes, ein Spiegelneuron selbst zu erleben, als Artikel darüber zu lesen, oder?« Ich versuchte es mit einer weiteren Erdnuss, aber dieses Mal mit der anderen Hand und aus einem anderen Winkel – trotzdem feuerte das Neuron erneut, als wollte es sagen: »Ist mir egal, wie du greifst. Ich bin doch nicht blöd: Ich sehe, dass du greifst, und deshalb feuere ich!«
    Hirnfunktionen, die auf Verbindungen zwischen Neuronen beruhen
    Um Spiegelneuronen verstehen zu können, müssen wir wissen, wie Neuronen im Allgemeinen arbeiten und wie das Gehirn seine vielen Neuronen nutzt, um eine bestimmte Funktion wahrzunehmen. Die Neuronen in unserem Gehirn sind kleine Einheiten, die als Elemente in einer Verarbeitungskette mitwirken. Sie erhalten Input von Neuronen, die vor ihnen liegen, und schicken Output an Neuronen, die nach ihnen kommen. Diese Input- und Output-Signale sind chemischer Natur. Ein Neuron setzt an seinen Nervenendigungen, sogenannten Synapsen, kleine Dosen von Neurotransmittern frei, also von chemischen Stoffen, die Nachrichten zwischen Neuronen übertragen. Diese Stoffe fließen zum nächsten Neuron in der Kette. Wird nur eine einzige Dosis des Neurotransmitters freigesetzt und gelangt zum nächsten Neuron, geschieht nicht viel. Wenn hingegen das sendende Neuron sehr aktiv ist, indem es mehrere Dosen ausschüttet, und/oder andere Neuronen sich beteiligen und ihren eigenen Ausstoß an Neurotransmittern beisteuern, addieren sich diese Inputs. Überschreitet die Summe dieser Dosen die Schwelle des nachgeschalteten Neurons, löst dieses einen kurzen Impuls elektrischer Aktivität aus, ein sogenanntes »Aktionspotenzial«, was einen doppelten Effekt hat. Erstens bewirkt es die Ausschüttung von Neurotransmittern an der Synapse
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