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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Autoren: Christian Keysers
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Patienten, sich zu bewegen. Die Stimulation kann vorgenommen werden, während der Patient bei Bewusstsein ist, weil das Gehirn selbst keine Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) besitzt. Gefragt, was sie fühlen, berichten die Patienten: »Meine Hand hat gezuckt«, als sei der Ursprung der Bewegung ihrer Kontrolle entzogen – wie der Kniesehnenreflex. Wenn Chirurgen die vor dem primären motorischen Kortex liegenden Hirnareale stimulieren (das heißt, die prämotorische oder supplementäre motorische Region), führen die Patienten kompliziertere Handlungen aus – sie beugen beispielsweise ihren Arm oder greifen nach etwas. Fragt man die Patienten, was während der Bewegung in ihrem Bewusstsein vor sich ging, sagen sie, sie hätten »den Drang verspürt, das zu tun«. 2 Manchmal haben Patienten sogar das subjektive Gefühl, ein Arm bewege sich, obwohl das körperlich nicht der Fall ist. Im Licht dieser Ergebnisse lässt sich die Aktivität der Spiegelneuronen im prämotorischen Kortex des Affen, während er menschliche Handlungen beobachtet, wohl am besten als Einfühlen in das Verhalten anderer verstehen, als Nachempfinden eines Handlungswunsches – ähnlich dem Drang, von dem menschliche Patienten nach elektrischer Stimulation der gleichen Hirnregion berichteten. Um auf unser Beispiel zurückzukommen: Der Anblick von jemandem, der Schokolade isst, würde demnach bei uns prämotorische Spiegelneuronen aktivieren; die wiederum ließen uns den Plan fassen, Schokolade zu essen, sodass wir am Ende einen starken Drang dazu verspüren würden.
    Ist Wahrnehmung wie ein Sandwich?
    Als Vittorio Gallese und seine Kollegen ihre Entdeckung Ende der neunziger Jahre veröffentlichten, saß ich noch an meiner Magisterarbeit. Einige Jahre später, als ich in dem mittelalterlichen schottischen Städtchen St. Andrews für meine Promotion forschte, besuchte ich einen Vortrag, bei dem Vittorio von seinen Entdeckungen berichtete. Ich war sofort fasziniert. »Für die meisten Menschen ist die Art und Weise, wie wir andere Menschen wahrnehmen und auf sie reagieren, ein Sandwich«, sagte Vittorio. »Die obere und die untere Schicht sind das Sehsystem, das uns ermöglicht, andere Menschen zu sehen, und das motorische System, mit dessen Hilfe wir angemessene motorische Reaktionen ausführen. Wenn wir bedenken, wie wir die Gedanken anderer Menschen lesen, sind diese Schichten notwendig, aber relativ uninteressant, wie die Brotscheiben eines Sandwiches«, sagte er lächelnd. »Die meisten Menschen glauben, dass wir andere Menschen nicht mittels des visuellen und des motorischen Systems verstehen, sondern durch einen speziellen Prozess zwischen dem Augenblick, da wir sehen, was andere Menschen tun, und dem, da wir auf sie reagieren. Niemand weiß, wo dieser spezielle Prozess stattfindet, aber er gilt als der interessanteste Teil des Problems – wie der Belag des Sandwiches.«
    Vittorio hatte recht. In den neunziger Jahren begann man in der Neurowissenschaft die Mechanismen der visuellen Verarbeitung zu verstehen, die unserem Gehirn ermöglichen, eine Repräsentation von dem anzulegen, was es in der Welt sieht. Doch es gibt ein Problem: Zu sehen, was in der Welt ist, ist nicht gleichbedeutend damit, die Welt zu verstehen. Wenn ich beispielsweise sehe, wie Sie ein Stück Schokolade nehmen, es in den Mund stecken und lächeln, verstehe ich zweierlei: Dass Sie Schokolade gegessen haben und dass Sie zufrieden sind. Abgesehen davon, dass ich sehe, was Sie tun, begreife ich auch intuitiv, was Sie fühlen. In den neunziger Jahren wussten wir, dass es Neuronen in der Sehrinde gibt, die auf den Anblick von Menschen reagieren, die etwas zum Mund führen. Sie feuern, wenn – und nur wenn – jemand ein Objekt dorthin bewegt. Doch das Sehsystem selbst hat keine Ahnung, was Schokoladeessen wirklich bedeutet: Es weiß nichts vom köstlichen bittersüßen Geschmack im Mund, von der cremigen Konsistenz, von dem Verlangen, das sie auslösen kann, dem köstlichen Nachgeschmack …
    Vom motorischen System dagegen nahm man an, dass es für die komplizierte Handlungsprogrammierung zuständig sei. Wenn Sie sahen, wie jemand Schokolade aß und Sie dann das Gleiche taten, nahm man an, an diesem Nachahmungsverhalten sei das motorische System erst beteiligt, nachdem Sie die andere Person hatten essen sehen, nachdem Sie analysiert und erkannt hatten, was der andere getan hatte, und nachdem Sie für sich entschieden hatten, dass Sie ebenfalls ein Stück wollten. Nach dieser
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