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Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Titel: Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
Autoren: Mojtaba Milad; Sadinam Masoud; Sadinam Sadinam
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ihn, Madar zu verzeihen.«
    Mojtaba, der das Ganze überhaupt nicht witzig fand, versetzte mir mit seiner Schulter einen Stoß. Ich fiel zur Seite und musste mich am Geländer festhalten, um nicht von der Treppe hinunterzustürzen. Mojtaba lehnte sich wie vorhin zurück und es wurde wieder still.
    Die Langeweile war drückender als die Sonne. Ziellos stand ich auf, schlenderte über den Hof und umkreiste das Rosenbeet. Zu meinem Glück entdeckte ich dort eine Ameisenstraße. Die tüchtigen schwarzen Ameisenarbeiter hatten vom Beet aus eine gerade Linie zu einer toten Fliege gebildet und gingen im Glied zügig auf und ab. Ich legte meinen Zeigefinger mitten auf ihren Weg und aus ihrer Kette wurde ein völliges Durcheinander. Als wären die Ameisen mit einem Mal verrückt geworden, rannten sie ziellos im Kreis. Manche von ihnen prallten sogar aufeinander und berührten gegenseitig ihre Fühler, zerstreuten sich wieder und fanden nach einigen Umwegen endlich zu ihrem Erdloch. Ich starrte auf meinen Finger, an dem ein paar Ameisen zwickten, und dachte an Schahmirzad.
    Normalerweise würden wir die Sommerferien mit Madar und Pedar dort im Landhaus unserer Großeltern, die wir Mamani und Babai nannten, verbringen. Schahmirzad war ein kleines Dorf, das etwa drei Stunden entfernt nordöstlich von Teheran lag. Auf der Fahrt nahm mich Pedar oft auf den Schoß und ließ mich mit dem Lenkrad in der Hand an den großen Lastwagen vorbeirasen. Ich fühlte mich dabei wie ein richtiger Rennfahrer und prahlte damit später vor meinen Freunden. Immer kurz bevor wir beim Landhaus ankamen, nahm mich Madar von seinem Schoß. Wie jedes Mal begann Pedar dann, über den holprigen Weg zu fluchen, der für die Federung des Wagens tödlich sei, während er das Auto sachte auf der schmalen Spur hin- und hermanövrierte, um nicht im kleinen Bach steckenzubleiben, der entlang des Weges vor sich hin plätscherte. Wenn ich schließlich den uralten Walnussbaum, der seine zwei großen Arme in beide Richtungen ausstreckte, durch die Frontscheibe sah, wusste ich, wir waren endlich angekommen – eine bordeauxrote Holztür gewährte uns Zugang zur anderen Seite einer hohen Lehmmauer. Dort wohnte unser Glück.
    Schahmirzad war für uns wie ein riesiger großer Spielplatz. Gleich hinter der Tür stand das Landhaus mit den Lehmwänden, auf dessen Veranda wir Fußball spielten. Eine Treppe führte hinunter zu einem von Rosen umsäumten Weg. An dessen Ende lag ein Stück Land, das nur uns Kindern gehörte und auf dem wir alles machen durften, was wir wollten. Der Rest des Grundstücks war ein schöner Hain aus Obstbäumen, wo wir uns oft jagten oder Verstecken spielten.
    Am liebsten aber zettelten wir einen Krieg an: zwischen Ameisen, Bienen und manchmal sogar Heuschrecken. Das Schlachtfeld war ein leeres durchsichtiges Glas, das wir zunächst mit ein paar Baumblättern füllten. Dann fingen wir rotbräunliche Ameisen, die überall flink herumkrabbelten, und warfen sie in unser Terrarium. Schwieriger war die Jagd nach Bienen. Jeder von uns nahm eine kleine Tüte in die Hand und untersuchte sie gründlich auf Löcher. Mit ihr bewaffnet, durchkämmten wir die Blumenbeete.
    Wenn ein ahnungsloses Opfer auf einer Blüte saß, stülpten wir blitzschnell die Tüte darüber und drückten am Stängel die Öffnung zu. Die überraschte Biene begann nun vergeblich zu flüchten und flog immer wieder gegen die Plastikmauer. Doch der wirkliche Kunstgriff erfolgte erst jetzt: Die Tüte musste, ohne dass die Biene entwischte, von der Blüte so abgezogen werden, dass diese unversehrt blieb und wir mit Mamani keinen Ärger bekamen. Danach musste unser Krieger sicher an seinen Platz gebracht werden. Dazu zogen wir den Plastikbeutel über unser Terrarium, und sobald unsere Beute drin war, schraubten wir den Deckel wieder fest drauf. Die Jagd konnte weitergehen.
    Mit jedem Insekt wurde es hektischer in unserer kleinen Welt. Als es schließlich genug Krieger auf beiden Seiten gab, hockten wir uns auf die Treppe der Veranda und schüttelten das Glas so lange, bis die Tiere jegliche Orientierung verloren und übereinanderfielen. Ameisen und Bienen krabbelten ziellos aufeinander herum, bis es endlich passierte: Sie griffen sich gegenseitig an. Manchmal kämpften sogar die Bienen gegeneinander. Es war ein aufregendes Schauspiel! Genau das, was wir jetzt brauchten.
    Ruckartig zog ich meinen mittlerweile prickelnden Finger aus der Ameisenstraße, sprang hoch und rannte in Richtung Haus.
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