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Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Titel: Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Autoren: Cynthia Hand
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wird alles verändern.
    Mama klappt das Bestimmungsbuch über Bäume zu und schaut mich über den Küchentisch hinweg mit feierlichem, nachdrücklichem Blick an.
    «Jetzt wird es wirklich ernst, Clara», sagt sie. «Die Vision, die Aufgabe – deshalb bist du hier.»
    «Ich weiß. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass wir umziehen müssen.»
    Ich schaue aus dem Fenster auf den kleinen Innenhof, auf dem ich früher gespielt habe, auf meine alte Schaukel, die Mama aus irgendeinem Grund bis heute nicht abgebaut hat, das Beet mit den Rosensträuchern ganz hinten am Gartenzaun, die schon so lange dort wachsen, wie ich denken kann. Hinter dem Zaun ahne ich die verschwommenen Umrisse der fernen Berge, die seit jeher die Grenze meiner Welt bildeten. Ich höre den Caltrain beim Überqueren des Shoreline Boulevards rumpeln und, wenn ich nur genau genug hinhöre, die schwache Musik aus dem Great America zwei Meilen weiter weg. Es scheint mir unmöglich, dass wir hier wegziehen sollen.
    Mama lächelt verständnisvoll.
    «Du hast gedacht, du fliegst einfach übers Wochenende irgendwohin, erledigst deine Aufgabe und fliegst wieder zurück?»
    «Na ja, so ungefähr.» Verlegen schaue ich zur Seite. «Wann willst du es Jeffrey sagen?»
    «Ich finde, das sollte warten, bis wir wissen, wohin genau wir ziehen.»
    «Kann ich dabei sein, wenn du es ihm sagst? Ich bringe auch Popcorn mit.»
    «Jeffreys Zeit wird auch noch kommen», sagt sie, und eine leise Traurigkeit spiegelt sich in ihren Augen; es ist der gleiche Blick, mit dem sie sonst zu sagen scheint, dass wir zu schnell erwachsen werden. «Wenn ihm seine Aufgabe zugewiesen wird, wirst du auch irgendwie damit umgehen müssen.»
    «Ziehen wir dann wieder um?»
    «Wir ziehen dorthin, wohin uns seine Aufgabe führt.»
    «Verrückt», sage ich und schüttle den Kopf. «Das kommt mir alles so verrückt vor. Und du weißt das, oder?»
    «Unergründliche Wege, Clara.» Sie schnappt sich meinen Löffel und steckt ihn sich, mit einer Riesenportion Eis, in den Mund. Dann lächelt sie verschmitzt und ist auf einmal wieder die lustige, ausgelassene Mama. «Unergründliche Wege.»

    Während der nächsten Wochen wiederholt sich die Vision alle zwei oder drei Tage. Ich ahne nichts Böses, und – peng – komme ich mir vor wie Smokey der Bär in der Fernsehaufklärung über Waldbrände. Inzwischen rechne ich jeden Moment damit: auf dem Schulweg, unter der Dusche, beim Mittagessen. Und die Wahrnehmung stellt sich nun auch ohne die Vision ein. Ich spüre die Hitze. Ich rieche den Rauch.
    Meine Freunde machen sich schon darüber lustig, dass ich oft geistesabwesend bin. Sie haben mir einen neuen unangenehmen Spitznamen verpasst: Trantüte. Und meinen Lehrern fällt es natürlich auch auf. Aber meine Leistungen in der Schule lassen nicht nach, also machen sie mir nicht allzu viel Ärger, wenn ich während der Schulstunde mal etwas in mein Tagebuch kritzele, das unmöglich mit dem Unterrichtsstoff zu tun haben kann.
    Vor ein paar Jahren noch waren in meinem Tagebuch, diesem nachlässig gebundenen Büchlein, das ich mit zwölf bekam, mit Hello-Kitty-Aufdruck und dem verbogenen goldfarbenen Schlüssel, den ich an einem Kettchen um den Hals trug, um es vor Jeffreys neugierigen Blicken zu schützen, nur die Ergüsse eines total normalen Mädchens zu lesen. Es gibt Kritzeleien von Blumen und Prinzessinnen, Einträge über die Schule und das Wetter, über Filme, die mir gefallen haben, über Musik, zu der ich getanzt habe, über meine Träume, die Zuckerfee im Nussknacker zu spielen, oder über die Episode, als Jeremy Morris einen Freund schickte, der mich fragen sollte, ob ich mit Jeremy ausgehen würde – natürlich habe ich nein gesagt, denn wieso sollte ich mit einem ausgehen, der zu feige ist, mich selbst zu fragen?
    Darauf folgte das Engeltagebuch, das ich mit vierzehn begann: ein mitternachtsblaues Notizbuch mit Spiralbindung und einem Engel auf der Vorderseite, einem in sich ruhenden weiblichen Engel, der meiner Mutter auf unheimliche Weise ähnlich sieht; er hat rotes Haar und goldfarbene Flügel, und er steht, umgeben von Sternen und Lichtstrahlen, auf der Spitze der Mondsichel. In dieses Tagebuch trug ich alles ein, was Mama mir über Engel und Menschen mit Engelblut erzählte, jedes Detail und jede Vermutung, die ich ihr entlocken konnte. Auch meine Experimente habe ich darin verewigt, wie das eine Mal, als ich mir mit einem Messer den Unterarm ritzte, um zu sehen, ob ich bluten würde (was
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