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...und noch ein Küsschen!

...und noch ein Küsschen!

Titel: ...und noch ein Küsschen!
Autoren: Roald Dahl
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selbst? Nein, das glaube ich nicht. Aber irgendwo in der Nähe   … Château Talbot? Könnte es ein Talbot sein? Ja, das wäre möglich. Warten Sie   …!»
    Er nippte an seinem Glas. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie sich Mike Schofield immer weiter über den Tisch beugte, den Mund ein wenig geöffnet, die kleinen Augen starr auf Richard Pratt gerichtet.
    «Nein. Ich hatte unrecht. Es ist kein Talbot. Ein Talbot spricht einen etwas schneller an als dieser hier; das Bouquet ist dichter an der Oberfläche. Wenn es ein Vierunddreißiger ist, was ich glaube, dann kann es kein Talbot sein. Hm   … Lassen Sie mich nachdenken. Kein Beychevelle, kein Talbot und doch – und doch den beiden so ähnlich, so nah verwandt, dass der Weinberg eigentlich zwischen ihnen liegen muss. Nun, welcher könnte das sein?»
    Er zögerte, und wir blickten ihn mit atemloser Spannung an. Jeder von uns, sogar Mikes Frau, beobachtete ihn jetzt. Ich hörte, wie sich das Dienstmädchen auf Zehenspitzen dem Büfett hinter mir näherte und die Gemüseschüssel sehr vorsichtig absetzte, um die Stille nicht zu stören.
    «Ah!», rief er plötzlich aus. «Ich hab’s! Ja, ich glaube, ich hab’s.»
    Er trank den letzten Schluck Wein. Dann, das Glas noch in der zum Mund erhobenen Hand, wandte er sich Mike zu, lächelte – ein weiches, öliges Lächeln – und sagte: «Wenn Sie’s genau wissen wollen: Das ist der kleine Château Branaire-Ducru.»
    Mike saß stumm und starr da.
    «Und zwar vom Jahrgang neunzehnhundertvierunddreißig.»
    Wir alle sahen auf Mike und warteten, dass er die Flasche in ihrem Korb umdrehte und das Etikett zeigte.
    «Ist das Ihre endgültige Antwort?», fragte Mike.
    «Ich denke schon.»
    «Nun, ist sie es, ja oder nein?»
    «Ja.»
    «Wie war doch der Name?»
    «Château Branaire-Ducru. Hübsches Weingütchen. Reizendes altes Château. Kenne es recht gut. Komisch, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin.»
    «Na los, Daddy», sagte Louise, «dreh sie um und lass uns den Namen sehen. Ich möchte meine beiden Häuser haben.»
    «Einen Augenblick», murmelte Mike. «Nur noch einen Augenblick.» Er saß ganz still, wie vom Donner gerührt, und sein Gesicht wurde schwammig und bleich, als flösse die Kraft langsam aus ihm heraus.
    «Michael!», rief seine Frau scharf vom anderen Ende des Tisches. «Was ist los?»
    «Bitte, Margaret, halt du dich aus dieser Angelegenheit heraus.» Richard Pratt sah Mike an, mit lächelndem Mund und kleinen, glänzenden Augen. Mike sah niemanden an.
    «Daddy!», rief seine Tochter angstvoll. «Daddy, du meinst doch nicht etwa, dass er richtig geraten hat?»
    «Reg dich nicht auf, Kindchen», stieß Mike hervor. «Dazu besteht überhaupt kein Grund.»
    Ich glaube, es war vor allem der Wunsch, seiner Familie zu entrinnen, der Mike bewog, zu Richard Pratt zu sagen: «Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Richard. Wirbeide verziehen uns jetzt ins Nebenzimmer und bereden die Sache in aller Ruhe.»
    «Ich will nichts bereden», erwiderte Pratt. «Ich will das Etikett auf der Flasche sehen.» Er wusste, dass er gewonnen hatte; seine Haltung, seine gelassene Arroganz waren die eines Siegers, und ich merkte ihm an, dass er höchst unangenehm werden würde, wenn es Schwierigkeiten geben sollte. «Worauf warten Sie noch?», fuhr er Mike an. «Los, drehen Sie um.»
    Dann geschah dies: Das Dienstmädchen, eine kleine, aufrechte Gestalt in Schwarz und Weiß, stand auf einmal neben Richard Pratt und hielt etwas in der Hand. «Ich glaube, das gehört Ihnen, Sir», sagte sie.
    Pratt wandte sich um und warf einen Blick auf die horngeränderte Lesebrille, die sie ihm zeigte. Er zögerte einen Moment. «So? Ja, vielleicht ist es meine. Ich weiß es nicht.»
    «Doch, Sir, sie gehört Ihnen.» Das Dienstmädchen, eine ältere Frau – den siebzig näher als den sechzig   –, lebte schon seit vielen Jahren im Hause und war der Familie treu ergeben. Sie legte die Brille auf den Tisch.
    Pratt griff danach und schob sie ohne ein Wort des Dankes in die Brusttasche hinter das weiße Taschentuch.
    Aber das Mädchen ging nicht fort. Sie blieb neben Richard Pratt stehen – genau gesagt, einen halben Schritt hinter ihm   –, und es war etwas so Ungewöhnliches in ihrem Benehmen und in der Art, wie sie dort stand, klein, unbeweglich, hoch aufgerichtet, dass ich von einer plötzlichen Vorahnung befallen wurde. Ihr altes graues Gesicht mit dem vorgestreckten Kinn hatte einen frostigen und entschlossenen Ausdruck, die
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