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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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Kandidatenliste aufgestellt. Mein Wahlkampf bestand aus fünf aus verholzten Tüten zusammengeklebten Plakaten, die an Schwabinger Ruinenwänden mit eigenhändig gekochtem Kleister angebracht wurden. Sie trugen die Aufschrift »Verjüngt den Stadtrat – wählt Hildegard Brücher« und entschieden über meine weitere Zukunft. Am Wahltag wurde ich auf den zweiten Listenplatz »vorgehäufelt«, was hieß, dass ich mit meinen knapp siebenundzwanzig Jahren die jüngste und unbedarftetste, aber sicher auch eine der motiviertesten Stadträtinnen der drei
Westzonen war. Meine Lehr- und Lernzeit begann dann am 20. Juni 1948 mit 75 Mark Aufwandsentschädigung. (Heute sind es 2100 Euro Grundvergütung plus Sitzungsgelder.)
    Das neue Amt war ein Fass ohne Boden, und als junge Stadträtin fühlte ich mich oft so ratlos wie nie zuvor und nie danach. Die Währungsreform erlöste uns zwar im Juni 1948 von den ärgsten Nöten, dennoch bremsten der Mangel an allem und das ständige Improvisieren-Müssen den Elan der Stadtväter sowie der wenigen Stadtmütter: Wir hatten keine Büros, keine Stühle, keine Telefone, keine Sekretärinnen. Meine Anträge tippte ich auf meiner Erika-Schreibmaschine, die ich 1936 zur Konfirmation bekommen und die den Krieg samt Luftschutzkeller und Doktorarbeit überstanden hatte. Für meine zahlreichen Besucher, die um Rat und Unterstützung baten, hatte ich ausrangierte Umzugskisten als Sitzgelegenheiten organisiert. Manchmal half ich einem kriegsversehrten Hausmeister, Dachpappe auf löchrige Schuldächer zu nageln, organisierte alte Säcke zum Putzen der maroden Fußböden und versuchte zitternd und zagend meine ersten Wortmeldungen im Stadtparlament durchzustehen. So ernüchternd war damals Politik für mich!
    Parteipolitik spielte im Stadtrat damals so gut wie keine Rolle, und ich war voller Bewunderung für Kollegen, auch fünf kommunistische, die noch von den Entbehrungen einer KZ-Inhaftierung gezeichnet waren und trotzdem mit anpackten, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Kurzum: Gemeindedemokratie habe ich nicht nur von Grund auf praktiziert, sondern auch als Lehrstück freiheitlichen Zusammenlebens verinnerlicht.
    Parallel zu den kommunalpolitischen Aufgaben arbeitete ich bis 1949 weiter bei der Neuen Zeitung . Man hatte mir nun eine regelmäßige Rubrik anvertraut, die ich »Wissenschaft und Forschung« taufte, zugleich wurde ich mit dem Aufbau eines Korrespondentennetzes beauftragt. Die amerikanischen Herausgeber meinten es gut mit uns deutschen Mitarbeitern, darunter Robert Lembke, Egon Bahr, Walter von Cube oder Peter Boenisch. Chefredakteur
Hans Wallenberg war aus dem Exil aus den USA zurückgekehrt und imponierte mir nicht nur aufgrund seines journalistischen Talents, sondern auch wegen seiner Bildung, seinem Witz und seiner Mitmenschlichkeit. In der NZ erlebte ich eine endgültige Befreiung von den geistigen Zwängen und Denkverboten nationalsozialistischer Indoktrination.
    Erinnerungen an die amerikanische Besatzung
    Was die US-Besatzer den Deutschen in ihrer Zone im Rahmen der Re-Education verordneten, fand ich zumeist vernünftig, ja notwendig – ausgenommen jenes schier hoffnungslose Vorhaben, Entnazifizierung mittels Fragebögen abzuwickeln.
    Vor allem ihre Anweisungen zu Schul- und Hochschulreformen waren einleuchtend, forderten sie doch mehr Durchlässigkeit der Schularten und Gleichberechtigung für Schüler jedweder Herkunft. Doch ihr Anspruch, Bildung zu demokratisieren und zu liberalisieren, wurde von den Deutschen jahrelang abgelehnt. Stattdessen wurde das dreigliedrige und ständisch orientierte Schulsystem mit Volksschule, Mittelschule und Gymnasium wieder eingeführt. Mir kam die Pauschalkritik an den Re-Education-Programmen reichlich überheblich vor. Man hätte sie vielleicht etwas diplomatischer »Re-Visions-Programme« nennen können, da es dabei nicht um drakonische Umerziehung, sondern eher um – wie man heute sagt – eine »Hilfe zur Selbsthilfe« ging. Hätten wir sie im Prinzip akzeptiert und wären wir nicht so verbockt gewesen, hätten wir uns viele Jahrzehnte gravierender bildungspolitischer Versäumnisse ersparen können. Die ersten deutschen PISA-Ergebnisse 2002 wären wahrscheinlich nicht so vernichtend ausgefallen.
    Das wichtigste und übergeordnete Vorhaben der Amerikaner bestand jedoch darin, uns Deutsche mit der Demokratie zu befreunden. Bei ihrer Einführung wollten sie uns mit Rat und Tat – manchmal auch per Dekret – auf die
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