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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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mich ungläubig an. Von all dem hatten sie noch nie etwas gehört, und das fand ich bedauerlich: Sogar die selbst erlebte Zeitgeschichte haben Eltern und Großeltern nicht an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. Es hätte sicher dazu beigetragen, den mühsamen Weg aus der Nazi-Diktatur in eine freiheitliche Demokratie anschaulich zu vermitteln.
    Wie stand es nach Kriegsende um mich? Bereits 1943 hatte ich ja den Entschluss gefasst, dass ich, falls ich die Nazizeit überstehen sollte, dazu beitragen wollte, dass sich ein Unrechts- und Terrorregime in Deutschland nie wiederholen könne. Diese Entscheidung stand vor allem im Zusammenhang mit dem Freitod meiner geliebten Großmutter, bei der wir fünf »Brücher-Waisen« nach dem frühen Tod der Eltern 1933 ein Zuhause gefunden hatten. Nun sollte sie nach Theresienstadt deportiert werden, da sie – obgleich lebenslang Christin – nach den NS-Rassegesetzen als Jüdin eingestuft wurde. Vor ihrem Abtransport nahm sie sich – fast 80-jährig – mit Schlaftabletten das Leben.
    Bei meinem Vorsatz hatte aber auch der Widerstand und Mut der Studenten der Weißen Rose eine Rolle gespielt, und auch die Hilfe meines Doktorvaters. Dies alles verstand ich nach Kriegsende als eine Art Vermächtnis und wollte es zur Richtschnur meines politischen Denkens und Handelns machen. Wie aber konnte das gelingen?
    Anfänge in Freiheit
    Der erste Friedenssommer überbot sich an Sonnenschein, Blumen und Früchten. Priorität hatte jedoch die Vorsorge für das Lebensnotwendigste, was großes Improvisationstalent erforderte: Wir trockneten Brotvorräte, machten die reiche Himbeerernte in leeren Bierflaschen ein, fällten kleine Bäume und hackten Holz für den Winter. Ich kochte eigenhändig Seife und Süßstoff, destillierte vergällten Alkohol und vermischte ihn mit gehamsterten Eiern zu Eierlikör, der reißenden Absatz fand. Das erbrachte kleine Geldbeträge oder andere notwendige Dinge. Doch damit konnte ich meine heimgekehrten Brüder und meine jüngere Schwester nicht ernähren. Wie sollte ich es schaffen, dass sie ihre Ausbildungen fortsetzen konnten?
    Es gab nur eine Möglichkeit: Ein Broterwerb musste her, und genau darum ging es mir in der zweiten Jahreshälfte 1945. Die Chemie war keine Perspektive mehr, sie war von den Alliierten als Forschung verboten worden. Aber wenn ich mit meinem Examen nicht Wissenschaftlerin werden konnte, vielleicht vermochte ich damit anderweitig zu punkten? »Versuch’s doch mal bei der amerikanischen Neuen Zeitung ( NZ ) mit freier Mitarbeit über naturwissenschaftliche Themen«, riet mein Bruder, der später Kunstbuchverleger wurde. Die Idee gefiel mir, und dank meines blütenweißen Fragebogens hinsichtlich meiner politischen Vergangenheit, meines Doktortitels und meiner »rassischen Verfolgung« während der NS-Zeit wollte man einen Versuch mit mir wagen. »Schreiben Sie doch mal über den jüdischen Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber«, so lautete der Probeauftrag. Im Keller des Deutschen Museums in München machte ich dazu Literatur ausfindig und schrieb eine halbe Doktorarbeit, die Wochen später als kleiner Zweispalter mit dem Titel »Leben und Werk Fritz Habers, von Hildegard Brücher« in der NZ erschien. Danach folgten weitere Aufträge, bei denen ich den Lesern erklärte: Was ist Penicillin? Was ist DDT-Puder? Was ist die Atomspaltung?

    Im Frühjahr 1946 wurde ich für 800 Reichsmark Gehalt und täglich ein warmes Essen als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Zeitung fest angestellt. Mein zuständiger Chef war mein Kinderschwarm Erich Kästner, der das Feuilleton leitete. Er und seine Lebensgefährtin, die Redakteurin Luiselotte Enderle, brachten mir das journalistische Handwerk bei, und mit einem für die NZ beschlagnahmten Fiat-Zweisitzer mit Stoffdach fuhren wir an den Wochenenden aufs Land, um ihre Freunde zu besuchen und ein wenig zu hamstern. Wir hatten zu dritt viel Spaß, bis Kästner die Arbeit als Feuilletonchef aufgab und wieder zu schreiben begann.
    Mit Hilfe seiner und Luiselotte Enderles Exerzitien durfte ich mich auch bald an Reportagen wagen und an den täglichen Redaktionskonferenzen teilnehmen. Mit drei Artikeln erregte ich Aufsehen, darunter ein Interview mit den Atomphysikern Otto Hahn und Werner Heisenberg, die nach ihrer Internierung in der Nähe von Cambridge aus England zurückgekommen waren. Mit ihnen sprach ich über den Stand der deutschen Atomforschung. Im zweiten Beitrag berichtete ich unter der
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