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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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Zusammenhänge zu kennen.
    Zudem möchte ich mit meinen Berichten aber auch einen Beitrag für die Zukunft einer Erinnerungskultur leisten. Es genügt nicht, Gedenkstätten zu errichten oder Gedenktage zu zelebrieren, damit die einstigen Katastrophen nicht vergessen werden. Mein Wunsch ist es, dass kommende Generationen sich unseres wechselvollen zeitgeschichtlichen Erbes bewusst werden – und zwar bevor es verblasst und es zu Rückfällen kommen kann. Dafür ist es wichtig, die Irrwege und Irrtümer unserer Vergangenheit zu kennen, so wie es der deutsch-jüdische Kulturphilosoph Karl Popper auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte formuliert hat: Der Sinn bestünde darin, aus ihren Irrtümern dauerhaft zu lernen. Meiner Meinung nach sind Politik und Geschichte nicht voneinander zu trennen: Politik bedarf immer auch geschichtlicher Bezüge, und Geschichte ist zugleich das Ergebnis von Politik – und somit verpflichtender Lernstoff.
    Gelingen kann dies jedoch nur, wenn man die entsprechenden Fehler kennt und benennt, und auch dazu möchte ich mit meinen Berichten ein Scherflein beitragen. Nicht weil ich ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hätte oder auf politischer Besserwisserei bestehe, sondern weil für mich das »Dennoch-Sagen« – im Sinne Max Webers – trotz aller Aufs und Abs im
eigenen Lebenslauf als Prüfstein für Politik als Lebensberuf unverzichtbar ist.
    Schließlich möchte ich, gemäß meiner persönlichen Befindlichkeit, noch einen weiteren Grund für meine Erfahrungsberichte hinzufügen: Viel zu lange war Politik ausschließlich Sache von Männern, auch war es ihr Privileg, sie zu deuten. Da nun aber zum Glück Frauen begonnen haben, sich politisch einzumischen, ist auch die Interpretation ihrer Sichtweise unverzichtbar geworden. Auch dazu möchte ich beitragen, dass künftig nicht nur Männer, sondern auch Frauen ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen, selbst wenn sie kritischer Art sind, aufarbeiten.
    Insgesamt war ich achtunddreißig Jahre Volksvertreterin mit einem Mandat, das ich erstmals 1948, als Stadtratskandidatin der Münchner FDP, errungen habe: Davon war ich zweiundzwanzig Jahre Abgeordnete im Bayerischen Landtag, vierzehn Jahre im Deutschen Bundestag, elf Jahre Mitglied von Regierungen, davon fünf Jahre Staatssekretärin für Bildung und Wissenschaft in Hessen und Bonn und sechs Jahre Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Dies ist meine Legitimation für die Behauptung, dass ich unsere repräsentative Demokratie »von der Pike auf« kennengelernt habe und über ihren Ist-Zustand Rechenschaft abzulegen vermag. Dazu sollen auch die im Anhang beigefügten vier Texte beitragen, die ich aus ungezählten ausgewählt habe, weil sie wichtige Stationen in meiner politischen Lebensbilanz belegen.
    Dabei bin ich mir bewusst, dass gerade ein neues politisches, technologisches und demographisches Zeitalter anbricht, das uns und unsere Demokratien im Westen und vor allem in Europa vor neue Herausforderungen und Bewährungsproben stellt.

    Demokratie und Freiheit sind lebensgestaltende Werte.
    Als der Krieg zu Ende ging – auf dem Weg in die Freiheit.

1
Über Glück und Enttäuschungen der ersten Nach-Hitler-Zeit
    Als der Krieg 1945 zu Ende ging, war ich knapp vierundzwanzig Jahre alt. Eine junge Frau, die nach zwölf Jahren vielfacher Drangsal, Diskriminierungen und Gefährdungen durch die Nürnberger Rassengesetze endlich ein angstfreies Leben führen konnte. Welch ein Glück! Es wurden keine Bomben mehr abgeworfen, es gab kein Blutvergießen mehr und – fast symbolisch – keine Verdunkelung. Ich spürte die Vorfreude, was es heißt, von nun an fröhlich und zuversichtlich sein zu dürfen. Ich hatte überlebt, und darüber waren alle Nachkriegsnöte, Trümmer und Mängel leicht zu ertragen. Nie wieder in meinem Leben, ausgenommen bei der Geburt meiner beiden Kinder, war ich so glücklich und dankbar wie nach der Befreiung durch die Sieger.
    Große Sorgen machte ich mir nur um meine beiden Brüder, die im thüringischen Zwangsarbeitslager Rositz inhaftiert waren. Ein Jahr zuvor hatte man sie dorthin gebracht. Auch ängstigte ich mich um einen Studienfreund, der in Stalingrad verschollen war und es für immer blieb. Meine Brüder kehrten erst Wochen nach Kriegsende ausgemergelt, aber tatenfroh zurück und holten ihre zwangsweise unterbrochene Schul- beziehungsweise Studienzeit nach.
    Kriegsende in Starnberg
    Mein eigenes Kriegsende erlebte ich Anfang Mai 1945 in Starnberg, wo ich, nachdem
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