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Um Mitternacht am schwarzen Fluß

Um Mitternacht am schwarzen Fluß

Titel: Um Mitternacht am schwarzen Fluß
Autoren: Stefan Wolf
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freiem Fuß sein. Ein
geschickter Anwalt würde sonstwas geltend machen — vielleicht sogar Notwehr
oder ererbten Schwachsinn. Sirenengeheul.
    Das war der Notarztwagen.
    Jürgen hörte, wie er abfuhr.
    Vor dem Einkaufs-Center liefen die
Leute zusammen. Jürgen nahm die Handschellen aus seinem Wagen, die dort immer
bereit lagen, ging aber noch nicht zum Schacht zurück.
    Er hatte einen der Angestellten
entdeckt. Der Mann war Abteilungsleiter und sprach mit zwei uniformierten
Polizisten eines Streifenwagens. Eben war der eingetroffen.
    Jürgen trat zu ihnen.
    „Ah, Sie!“ sagte einer der beiden — und,
indem er sich an den Abteilungsleiter wandte: „Das ist unser Kollege
Polizeimeister Becker.“
    Der Center-Mensch zitterte. Sein fahles
Gesicht zeigte Entsetzen.
    „Die... die Frau heißt auch Becker,
Herr Becker. Vom Sehen kenne ich sie. Aber mit Ihnen... nein, mit Ihnen habe
ich sie nicht zusammen gesehen. Sie hatte nur einen Kundenausweis bei sich.
Inge Walburga Becker.“
    Unter Jürgen schien sich der Boden zu
öffnen. Eine eisige Faust packte sein Herz.
    „Sie... sprechen von meiner Frau“,
hörte er sich sagen. „Zeigen Sie mir den Ausweis.“
    Dann hielt er ihn in der Hand.
    Für einen Moment mußte er gegen
Ohnmacht ankämpfen. „Der... gehört meiner Frau. Ist sie schwer verletzt?“
    Der Abteilungsleiter preßte die Lippen
zusammen.
    Die beiden Uniformierten blickten
betroffen.
    „Wenn Sie telefonieren wollen, Herr
Becker. Der Notarzt bringt Ihre Frau ins Regina-Krankenhaus.“
    Kein Wort von dem Kerl im Schacht.
Vorläufig war der dort auf Nummer sicher. Und später?
    Kalte Wut stieg in Jürgen auf. Später
würde er sich diesen Gnazow vornehmen. Allein. Das war eine Sache zwischen
ihnen beiden und ging keinen was an.
    Er warf sich in den Wagen und preschte
zum Regina-Krankenhaus.

22. Eine einzige Frage
     
    Hilleberger Straße Nr. 211 war eine
ungemütliche Mietskaserne.
    Gnazow wohnte unterm Dach, hofseitig.
Aber an seiner Tür klingelte sich Tim den Daumen breit.
    Ein Drei-Käse-hoch, der im Treppenhaus
mit seinem Meerschweinchen spielte, sagte, Herr Gnazow wäre weggegangen — vorhin.
    Die TKKG-Bande machte lange Gesichter.
    „Was diese Typen betrifft“, meinte Tim,
„verfolgt uns das Pech. Wo wir auch aufkreuzen — keiner ist zu Hause. Ich seh
mich schon heute nacht hier vor der Haustür auf modriger Matratze liegen, um
den Gnazow abzupassen. Aber er kommt und kommt nicht, und die heutige Nacht
wird wahrscheinlich noch kälter.“
    „Was machen wir?“ fragte Karl.
    „Vielleicht ist er nur irgendwo essen
gegangen und kehrt gleich zurück“, hoffte Klößchen.
    Tim nickte. „Wir müssen warten. Uns
bleibt nichts anderes übrig.“
    In Sichtweite war eine Grünanlage.
    Sie schoben ihre Räder dorthin und
belegten eine Bank.
    Die Sonne schien. Klößchen futterte
Schokolade und kümmerte sich nicht um die Spatzen, die erwartungsvoll vor ihm
herumhüpften.
    Nach einer Weile sagte Gaby: „Dort ist
eine Telefonzelle. Ich rufe mal meinen Papi an. Heute habe ich ihn noch nicht
gesehen. Er mußte gleich ins Präsidium fahren. Daß er von uns über Tanja
informiert wird, ist unbedingt nötig.“
    „Grüß ihn von uns“, meinte Tim. „Hoffentlich
hat der Böhml inzwischen keinen Mist gebaut.“
    Gaby zupfte an ihrem Stirnband. Dann
zog sie los.
     
    *
     
    Im Regina-Krankenhaus war Jürgen mit
seinen Nerven am Ende. Er hatte seine Frau noch nicht gesehen. Die Angst um sie
schnürte ihm das Herz ab.
    Ein junger Assistenz-Arzt versuchte zu
trösten.
    „Ihre Frau wird gerade operiert, Herr
Becker. Über ihren Zustand kann ich Ihnen im Moment nichts sagen. Aber bald
wissen wir mehr.“
    Dann war Jürgen mit sich allein.
    Er rannte in der Halle auf und ab.
    Als er an den Telefonzellen vorbei kam,
fiel es ihm ein.
    Um Himmels willen! Seine Schwiegermutter.
Die Erna! Die hatte er ganz vergessen. Ausgerechnet jetzt!
    Seit einer Woche war sie bei ihnen zu
Besuch. Auf den Keks ging ihm das, denn die Frau war rechthaberisch und konnte
es ihm nie verzeihen, daß er ihr die Tochter weggenommen hatte. Gleichwohl! Jetzt
mußte er ihr Bescheid sagen. Und plötzlich empfand er nur Mitleid für sie. Bei
all ihren Mängeln — sie war eine alte Frau. Hatte nicht mehr viel vor sich und
hing sehr an Inge.
    Er nahm den Hörer ab, warf Münzen ein
und wählte seine Nummer.
    „Becker“, meldete sich eine fröhliche
Stimme.
    Jürgens Hand umkrampfte den Hörer. Er
glaubte zu träumen.
    „Inge? Inge, bist
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