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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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krochen heraus, trockneten treibend ihre Flügel, bis sich ein Heer von Insekten in die Luft erhob und über dem Wasser tanzte. Ich glaubte damals, Vater und Hermann würden sich mit jedem Schritt, den sie weiter flussabwärts gingen, in diesen über dem Wasser glitzernden Partikeln auflösen. Es hatte den Anschein, als würden die beiden für immer verschwinden, in einer ewig währenden, unsichtbaren Anwesenheit die Beute des großen Fisches werden. Wenn ich je an etwas Übernatürliches, an einen Gott glaubte, dann in jenem Moment.

 
     
     

    Der Hecht (Esox lucius) hat einen langen flachen Körper, eine entenschnabelförmige Schnauze und ein stark bezahntes, breites Maul. Verglichen mit dem großen Fisch, ist er jedoch trotz seiner Gefährlichkeit und Raubgier ein harmloser Geselle, der nur Fressgier kennt, grenzenlose Gier, selbst Artgenossen verschont er nicht. Der Hecht scheint dafür gemacht, denn sein Körper ist zur Tarnung gelb-olivgrün gefärbt, mit dunklen Querbinden an der Flanke. Er lauert regungslos in langsam fließendem Gewässer mit Stillwasserzonen, hinter Wasserpflanzen oder versunkenen Baumstämmen. Er ist so gut getarnt, dass andere Fische arglos nahe an ihn heranschwimmen, er stößt zu, packt seine Beute quer und dreht sie im Maul, um sie mit dem Kopf voran zu verschlingen.

4
    Während ich hier mitten im Fluss stehe, fische und die Gerüche des Wassers atme, die den Herbst schon mit sich führen, denke ich zum ersten Mal wirklich über meinen Bruder, mich und unsere Familie nach. Ich hole die Leine ein, bündele sie und setze meine Brille auf, um einen anderen Köder Hermanns ans Vorfach zu knüpfen. Ich erinnere mich an unsere Kindheit und Jugend, an unsere Mutter, an ihre Art zu reden, zu lachen, sich über andere und insbesondere über Hermann lustig zu machen. Für Mutter waren Hermann und ich nur Zufallsprodukte aus Liebesnächten nach anstrengenden Markttagen hinter der Theke, mit einem der Männer, die sie vielleicht gebraucht hatte, um ihren geliebten ersten Mann Valentin zu vergessen – sie hatte das einmal beiläufig erwähnt, als sie mit Reese in der Küche saß, sie redete von ihrem langen Krankenhausaufenthalt nach dem Unfall mit Valentin und dass sie die ganze Zeit über nicht hatte glauben wollen, dass er tot sei. Sie sagte: «Die Kinder hätt’ ich nich’ bekommen, wenn die mir damals nach dem Unfall nich’ versichert hätten, dass ich keine mehr kriegen kann …» Als Mutter uns an der Küchentür bemerkte, lachte sie verlegen, sagte, dass sie letztlich doch ganz froh sei, uns zu haben. Ich glaubte ihr damals nicht, was Hermann dachte, weiß ich nicht; wir haben nie darüber gesprochen.
    Hermanns Sprachfehler diente Mutter oft zur Belustigung der Gäste; sie ließ ihn ‹Fischers Fritz fischt frische Fische› aufsagen, und alle amüsierten sich über sein Lispeln. Sie tat dann so, als hätte sie nichts mit ihm zu tun, als wäre er irgendein x-beliebiges Kerlchen, das zufällig in der Gaststätte saß und eine Cola trank. Ich weiß nicht, warum Mutter so verbittert und zynisch war. Reese, die sie schon als Mädchen gekannt hatte, sagte oft, dass nur ihre äußere Schönheit geblieben sei, nachdem sie Valentin auf so tragische Weise verloren hatte. Valentin war Reeses jüngster Bruder gewesen, und wenn er wie Tante Reese gewesen war, kann ich auch verstehen, warum Mutter so um ihn trauerte.
    Mutter war eine schöne Frau, sie hatte dickes, kastanienrotes Haar und wunderbar grüne Augen. Manche Männer kamen nur in unsere Gaststätte, um an der Theke zu sitzen, sie anzusehen und sich vorzustellen, von ihr geliebt zu werden. Aber Mutter konnte seit Valentins Tod niemanden mehr lieben, und wenn sie uns etwas beigebracht hat, dann, keinen zu lieben.
    Es gab in unserer Familie wenig Zeit für uns; immer standen die Gäste im Mittelpunkt, mussten bedient werden, zufrieden sein, damit sie wiederkamen und ihr Geld bei uns ließen. Wir alle haben daraus unterschiedliche Lehren gezogen, haben uns unterschiedlich entwickelt, sodass wir uns schließlich fremd wurden. So wie es uns damals schien, regierte in unserer Gaststätte nur Hinterhältigkeit, es gab keine Moral, alle Gäste waren, um es mit Vaters Worten zu sagen, an Land geschleuderte, zappelnde, erbärmliche Amphibien, es gab keinen schlimmeren und doch für diese Lektion geeigneteren Ort. Erfolgreich und angesehen waren diejenigen, die nicht nachdachten, nur skrupellos ihre Ziele verfolgten, die jeden Vorteil schamlos
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