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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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aus allen Richtungen auf mich zusausen.
    »Hab mir gedacht, dass du hier bist.« Ich kann seine Miene nicht deuten. Nervös? Wütend? Sein Gesicht wirkt unruhig, als wüsste er nicht, was er fühlen soll. »Ich hab dein Gedicht bekommen …«
    Ich kann das Blut durch meinen Körper rauschen hören, es dröhnt mir in den Ohren. Was wird er sagen? Ich hab dein Gedicht bekommen und tut mir leid, ich kann dir niemals
vergeben? Ich hab dein Gedicht bekommen und ich fühle wie du: Mein Herz ist dein, John Lennon . Ich hab dein Gedicht bekommen und im Irrenhaus angerufen – die Zwangsjacke ist im Rucksack. Seltsam. Ich hab Joe noch nie mit Rucksack gesehen.
    Er beißt sich auf die Lippe, klopft sich mit der Klarinette aufs Bein. Eindeutig nervös. Das kann nichts Gutes heißen.
    »Lennie, ich hab alle deine Gedichte.« Was redet er da? Was meint er damit? Er schiebt sich die Klarinette zwischen die Schenkel und hält sie dort fest, während er den Rucksack abnimmt und den Reißverschluss öffnet. Dann holt er tief Luft, zieht eine Schachtel heraus und reicht sie mir.
    »Nun, wahrscheinlich nicht alle, aber die hier.«
    Ich mache den Deckel auf. Drinnen sind Fetzen Papier, Servietten, Pappbecher, alle mit meinen Worten drauf. Die kleinen Teile von Bailey und mir, die ich verstreut, begraben und versteckt habe. Das kann nicht sein.
    »Wie das?«, frage ich verblüfft. Mir wird unbehaglich, wenn ich daran denke, dass Joe alles in dieser Schachtel gelesen hat. All diese intimen, verzweifelten Augenblicke kennt. Es ist schlimmer, als wenn jemand dein Tagebuch liest. Es ist, als ob jemand das Tagebuch liest, das man glaubte, verbrannt zu haben. Und wie ist er an all diese Sachen gekommen? Hat er mich verfolgt? Das wäre perfekt. Endlich verliebe ich mich in jemanden, und der ist dann ein absolut wahnsinniger Irrer.
    Ich schaue ihn an. Er grinst ein bisschen und ich sehe ein ganz schwaches Plink. Plink. Plink. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagt er. »Dass ich ein gruseliger Stalkertyp bin.«

    Bingo.
    Das amüsiert ihn. »Bin ich nicht, Len. Es kam nur immer wieder so. Zuerst hab ich sie immerzu gefunden und dann, nun ja, hab ich angefangen zu suchen. Ich konnte einfach nicht anders. Das war wie so eine abgedrehte Schatzsuche. Erinnerst du dich noch an diesen ersten Tag im Baum?«
    Ich nicke. Joe, der irre Stalker – aber mir ist gerade etwas weitaus Faszinierenderes aufgefallen. Er ist nicht mehr wütend. War es das dildonische Gedicht? Was immer es war, ich bin in einem so wilden Freudentaumel, dass ich ihm nicht mal zuhöre, als er zu erklären versucht, wie in aller Welt diese Gedichte in diesem Schuhkarton gelandet sind und nicht auf dem Müllhaufen oder warum sie nicht von einem Windstoß durch Death Valley getrieben werden.
    Ich versuche mich auf das einzustellen, was er sagt: »Weißt du noch, im Baum hab ich dir erzählt, dass ich dich oben an der Great Meadow gesehen hatte? Ich hab dir gesagt, ich hätte gesehen, wie du einen Zettel geschrieben hast, und beobachtet, wie du ihn fallen gelassen hast, als du weggegangen bist. Aber ich hab dir nicht erzählt, dass ich danach das Stück Papier gefunden habe, das sich im Zaun verfangen hatte. Es war ein Gedicht über Bailey. Vermutlich hätte ich es nicht behalten sollen. Ich wollte es dir an diesem Tag im Baum wiedergeben, ich hatte es in der Tasche, aber dann dachte ich, du würdest es seltsam finden, dass ich es überhaupt mitgenommen hatte, deshalb hab ich es behalten.« Er beißt sich auf die Lippe. Ich weiß noch, wie er mir erzählte, er habe gesehen, wie ich etwas fallen gelassen hatte, das ich geschrieben hatte. Aber dass er es hätte finden
und lesen können, war mir nicht in den Sinn gekommen. Er redet weiter: »Und dann, als wir im Baum waren, hab ich gesehen, dass Worte auf die Zweige gekritzelt waren, da dachte ich, du hättest vielleicht noch was anderes geschrieben, aber ich mochte nicht fragen, deshalb bin ich später noch mal hingegangen und hab alles in ein Notizbuch eingetragen.«
    Das kann ich nicht glauben. Ich setze mich auf, fische in der Schachtel herum und gucke diesmal genauer hin. Da liegen einige Papierfetzen mit seiner seltsamen Briefbombenattentäterschrift – wahrscheinlich Abschriften von Wänden, Scheunentoren oder anderen praktischen Schreibflächen, die sich mir angeboten hatten. Keine Ahnung, was ich davon halten soll. Er weiß alles – mein Innerstes ist nach außen gekehrt.
    Sein Mienenspiel hängt zwischen Sorge und Aufregung
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