Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
Vom Netzwerk:
Anweisung folgend lasse ich Klarinettenkasten und Tasche fallen, pflanze mich zwischen einem trägen Toby und den schlafenden Hunden ins warme Gras und helfe »jäten«.
    Toby nickt gleichgültig in seinem Blumenkoma. Ich bin eine grünnasige Ofenkartoffel. Toll.
    Ich mache mich zur Schildkröte, ziehe die Knie an die Brust und lege den Kopf in die Spalte dazwischen. Mein Blick wandert vom Blauregen, der sich über das Spalier ergießt, zu den Narzissen, die in mehreren Gruppen tratschend im Wind stehen, und es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass der Frühling heute seinen Regenmantel abgestreift hat und einfach angeberisch herumstolziert – mir wird ganz übel davon, es ist, als habe die Welt schon vergessen, was uns passiert ist.
    »Ich werde ihre Sachen nicht in Kartons packen«, sage ich, ohne nachzudenken. »Niemals.«
    Toby rollt sich auf die Seite, er schützt sein Gesicht mit der Hand vor der Sonne, damit er mich sehen kann, und zu meiner Überraschung sagt er: »Natürlich nicht.«
    Ich nicke und er nickt zurück, dann lasse ich mich ins
Gras fallen und verschränke die Arme über dem Kopf, damit er nicht sieht, dass ich darunter heimlich ein wenig lächele.
    Dann nehme ich meine Umgebung erst wieder wahr, als die Sonne sich hinter einen Berg verzogen hat, und dieser Berg ist Onkel Big, der über uns aufragt. Toby und ich müssen beide eingeschlafen sein.
    »Ich fühle mich wie Glinda die Gute Hexe«, sagt Big, »als sie in dem vor Oz gelegenen Mohnfeld auf Dorothy, die Vogelscheuche und zwei Totos herunterschaut.« Ein paar narkotisierende Frühlingsblüten können es nicht mit Bigs Trompetenstimme aufnehmen. »Also, wenn ihr nicht aufwacht, werde ich es wohl auf euch schneien lassen müssen.« Ich grinse benommen zu ihm hoch, sein enormer Schnauzbart sitzt angriffslustig über seiner Oberlippe wie die Große Schrägheitserklärung. An Stelle einer Aktentasche trägt er eine rote Kühltasche bei sich.
    »Wie geht die Verteilungsarbeit voran?«, frage ich und tippe mit dem Fuß auf die Kühltasche. Wir haben Schinkenprobleme. Nach der Beerdigung war in Clover offenbar die Losung ausgegeben worden, bei uns zu Haus mit einem Schinken vorbeizuschauen. Schinken waren überall, sie füllten den Kühlschrank, die Gefriertruhe, sie lagen nebeneinander aufgereiht auf den Küchenschränken, hockten in der Spüle und im kalten Backofen. Onkel Big ging an die Tür, wenn die Leute vorbeikamen, um uns ihr Beileid auszusprechen. Ein übers andere Mal konnten Grama und ich seine dröhnende Stimme hören: »O, ein Schinken, wie aufmerksam, danke, kommt doch herein.« Im Laufe der Tage
wurde Bigs Reaktion auf die Schinken immer dramatischer – damit wir auch etwas davon hatten. Jedes Mal wenn er ausrief »Ein Schinken!«, sahen Grama und ich uns in die Augen und mussten ein unangemessenes Gekicher unterdrücken.
    Jetzt ist es Bigs Mission, dafür zu sorgen, dass auch jeder im Umkreis von 20 Meilen sein tägliches Schinkenbrot bekommt.
    Er stellt die Kühltasche auf den Boden ab und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. »Möglicherweise wird dies in wenigen Tagen ein schinkenloses Haus sein.«
    Als ich stehe, küsst Big meinen Kopf, dann zieht er Toby hoch. Als der steht, nimmt Big ihn in die Arme, und ich beobachte, wie Toby, der selber ziemlich groß ist, in der gewaltigen Umarmung verschwindet. »Wie hältst du dich denn so, Cowboy?«
    »Nicht so gut«, gibt er zu.
    Big lässt ihn los, behält eine Hand auf seiner Schulter und legt die andere auf meine. Er schaut von Toby zu mir. »Wir kommen nicht drum rum, wir müssen da durch … das gilt für jeden von uns.« Das sagt er wie Moses, also nicken wir beide, als hätte man uns eine große Weisheit anvertraut. »Und dir holen wir jetzt mal ein bisschen Terpentin.« Er zwinkert mir zu. Big ist ein großer Zwinkerer – seine fünf Ehen beweisen das. Nachdem er von seiner geliebten fünften Frau verlassen worden war, hatte Grama darauf bestanden, dass er zu uns zog. Sie sagte: »Euer armer Onkel wird noch verhungern, wenn er noch länger in diesem liebeskranken Zustand verbleibt. Ein trauerndes Herz vergiftet jedes Rezept.«

    Das hat sich als wahr erwiesen, zumindest was Grama angeht. Alles, was sie jetzt kocht, schmeckt wie Asche.
    Toby und ich folgen Big ins Haus, wo er vor dem Bild seiner Schwester stehen bleibt, meiner verschwundenen Mutter: Paige Walker. Ehe sie vor sechzehn Jahren weggegangen ist, hat Grama ein Porträt von ihr gemalt, das nie vollendet, aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher