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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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die die erste Position an sich gerissen hat. Aber Sarah weiß nicht, was wirklich vorgefallen ist – niemand weiß das.
    Rachel schraubt an der Blattschraube ihres Mundstücks, als ob sie die Klarinette erwürgen wollte. »Joe war in deiner Abwesenheit eine fabelhafte Zweite«, sagt sie und zieht das Wort fabelhaft von hier bis zum Eiffelturm.
    Ich speie kein Feuer wie: »Schön, dass alles nach deinen Wünschen gelaufen ist, Rachel.« Ich sage kein Wort, wünsche mir nur, ich könnte mich ganz klein zusammenrollen und wegkullern.
    Sarah hingegen sieht aus, als wünschte sie sich ungehinderten Zugriff auf eine Streitaxt.
    Inzwischen ist im Raum ein Durcheinander von willkürlichen Tönen und Tonleitern losgebrochen. »Seht zu, dass ihr fertig werdet mit dem Stimmen, wir fangen heute pünktlich an«, ruft Mr James vom Klavier her. »Und nehmt eure Bleistifte zur Hand, ich habe Änderungen am Arrangement vorgenommen.«
    »Dann geh ich mal lieber und schlag auf was«, sagt Sarah,
wirft Rachel einen angewiderten Blick zu und zieht mit hoher Nase ab, um auf ihre Pauke zu schlagen.
    Rachel zuckt die Achseln, lächelt Joe an – nein, sie lächelt nicht, sie zwinkert: o Scheiße. »Na, ist doch wahr«, sagt sie zu ihm. »Du warst – ich meine, du bist – fabelhaft .«
    »Ach was.« Er bückt sich und packt seine Klarinette ein. »Ich bin ein Stümper, hab nur den Stuhl warm gehalten. Jetzt kann ich wieder dahin zurück, wo ich hingehöre.« Er zeigt mit seiner Klarinette zu den Hörnern.
    »Du bist nur bescheiden«, sagt Rachel und wirft die Märchenlocken über die Stuhllehne. »Du hast so viele Farben auf deiner Tonpalette.«
    Ich sehe Joe an und erwarte angesichts dieser schwachsinnigen Äußerung, irgendwelche Anzeichen eines innerlichen Stöhnens ausmachen zu können, sehe aber Anzeichen von etwas ganz anderem. Er schenkt auch Rachel ein Lächeln von geografischer Weite. Mein Hals wird ganz heiß.
    »Weißt du, ich werde dich vermissen«, sagt sie schmollend.
    »Wir sehen uns wieder«, antwortet Joe und erweitert sein Repertoire noch um einen Augenaufschlag. »Nächste Stunde, in Geschichte.«
    Ich bin wie in der Versenkung verschwunden, was eigentlich gut ist, denn plötzlich hab ich nicht die geringste Ahnung, was ich mit meinem Gesicht, meinem Körper oder dem zerschmetterten Herz anfangen soll. Ich setze mich auf meinen Platz und stelle fest, dass dieser grinsende, wimpernklimpernde Idiot aus Fronce kein bisschen so aussieht wie Heathcliff. Hab mich geirrt.

    Ich mache meinen Klarinettenkasten auf, nehme mein Blatt in den Mund, um es anzufeuchten, beiße es aber stattdessen entzwei.

    (Gefunden auf einem Stück Papier, aufgespießt auf einen tief hängenden Zweig – in der Flying-Man-Schlucht)

3. Kapitel
    DER REST DES TAGES zieht vorüber wie hinter einer Nebelwand. Vor dem letzten Klingeln schleiche ich mich hinaus und tauche in die Wälder ab. Für den Heimweg will ich nicht die Straße nehmen, will nicht riskieren, irgendjemanden aus der Schule zu treffen, schon gar nicht Sarah, die mir mitgeteilt hat, dass sie, während ich mich versteckt habe, Bücher über Verlust und Trauer gelesen hat und nach Meinung sämtlicher Experten sei es nun Zeit für mich, über das zu reden, was ich durchmache. Aber sie und die Experten – und Grama übrigens auch – kapieren es nicht. Ich kann nicht. Ich brauche ein neues Alphabet, eins, das aus fallender Bewegung besteht, aus Kontinentalverschiebungen, aus tiefer, alles verschlingender Dunkelheit.
    Auf meinem Weg durch die Redwood-Bäume saugen meine Schuhe den Regen von Tagen auf. Warum, frage ich mich, geben Hinterbliebene sich überhaupt mit Trauerkleidung ab, wo der Schmerz selbst doch so eine unverkennbare Garderobe bereitstellt? Der Einzige, der heute nichts an mir bemerkt hat – abgesehen von Rachel, die nicht zählt -, war
der Neue. Er wird mich immer nur als diese neue, schwesterlose Person kennen.
    Ich sehe ein Stück Papier auf dem Boden liegen, das trocken genug ist, um darauf zu schreiben, also setze ich mich auf einen Stein, ziehe den Stift heraus, den ich jetzt immer in der hinteren Hosentasche trage, und kritzele aus der Erinnerung ein Gespräch hin, das Bailey und ich mal hatten. Ich falte den Zettel und vergrabe ihn in der feuchten Erde.
    Als ich schließlich aus dem Wald heraus auf die Straße zu unserem Haus trete, überkommt mich Erleichterung. Ich will zu Hause sein, wo Bailey am lebendigsten ist, wo ich sie immer noch sehen kann, wie sie sich aus
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