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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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zehnten Klasse hat sie Sartre gelesen – Der Ekel -, da hat sie auch angefangen Schwarz zu tragen (sogar am Strand), Zigaretten zu rauchen (obwohl sie aussieht wie das gesündeste Mädchen auf weiter Flur) und sich mit ihrer Existenzkrise verrückt zu machen (sogar wenn sie bis in die frühen Morgenstunden abfeierte).
    »Lennie, willkommen zurück, meine Liebe«, sagt jemand anders. Mr James, den ich im Stillen Yoda nenne, sowohl aufgrund der äußeren Erscheinung als auch wegen der inneren musikalischen Qualitäten, hat sich am Klavier hingestellt und schaut mit dem gleichen Ausdruck abgrundtiefer Traurigkeit zu mir hinüber, mit dem ich von Erwachsenen
in letzter Zeit immer angesehen werde. Ich hab mich dran gewöhnt. »Uns allen tut es so sehr leid.«
    »Danke«, sage ich zum hundertsten Mal an diesem Tag. Sarah und Joe sehen mich auch beide an, Sarah mit Sorge, Joe mit einem Grinsen, das von Küste zu Küste der USA reicht. Ob der wohl alle so ansieht? Hat er vielleicht eine Schraube locker? Egal, was es auch sein mag oder was er auch haben mag, es ist ansteckend. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, gehe ich bei seinem Von-Küste-zu-Küste-Grinsen mit und erhöhe noch um Puerto Rico bis Hawaii. Ich muss aussehen wie die Lustige Witwe. Tss. Und damit nicht genug, jetzt überlege ich auch noch, wie es wohl sein mag, ihn zu küssen, ihn so richtig zu küssen – uh-oh. Das ist ein Problem, ein völlig neues, überhaupt nicht Lennie-gemäßes Problem, das sich zum ersten Mal ( warum, verdammte Scheiße?! ) auf der Beerdigung bemerkbar machte: Ich versank in Finsternis und plötzlich fingen all diese Typen im Raum an zu leuchten. Freunde von Bailey, vom Job oder vom College, die meisten kannte ich nicht, kamen zu mir und sprachen mir ihr Beileid aus. Ob es nun an meiner Ähnlichkeit mit Bailey lag oder ob sie Mitleid mit mir hatten, ich weiß es nicht, jedenfalls ertappte ich später einige von ihnen dabei, wie sie mich auf so eine hitzige, dringliche Art anschauten. Und ich stellte fest, dass ich ihr Starren auf die gleiche Weise erwiderte, so als wäre ich eine ganz andere; und die Dinge dachte, an die ich vorher kaum gedacht hatte, Dinge, die ich mich schämte, in einer Kirche zu denken und erst recht bei der Beerdigung meiner Schwester.
    Dieser vor mir strahlende Junge scheint in einer Klasse für
sich zu strahlen. Er muss aus einem sehr freundlichen Teil der Milchstraße stammen, denke ich, während ich versuche, das durchgeknallte Lächeln auf meinem Gesicht herunterzufahren. Doch dann kann ich nicht an mich halten und sage zu Sarah: »Der sieht aus wie Heathcliff.« Mir ist nämlich gerade aufgegangen, dass das den Nagel auf den Kopf trifft, na ja, vielleicht mal abgesehen von der Sache mit dem glücklichen Lächeln – aber plötzlich wird mir der Teppich unter den Füßen weggezogen und ich knalle auf den kalten, harten Beton des Lebens, denn mir fällt wieder ein, dass ich nach der Schule nicht nach Hause rennen und Bailey von einem neuen Jungen im Orchester erzählen kann.
    Meine Schwester stirbt immer und immer wieder, den ganzen Tag lang.
    »Len?« Sarah berührt mich an der Schulter. »Geht’s?«
    Ich nicke und mit meiner Willenskraft zwinge ich den außer Kontrolle geratenen Zug des Kummers, der auf mich zurasen wollte, zu verschwinden.
    Hinter uns stimmt jemand die Titelmelodie von »Der Weiße Hai« an. Ich dreh mich um, Rachel Brazile gleitet auf uns zu. »Sehr witzig«, meckert sie den Saxophonisten Luke Jacobus an, der für diese Einlage verantwortlich ist. Er ist nur eines von vielen Orchester-Opfern, die Rachel in ihrem Fahrwasser zurückgelassen hat. Einer von den Jungs, die sich davon haben blenden lassen, dass all dieser hochnäsige Horror in einen spektakulären Körper gestopft ist, um dann noch weiter von großen Rehaugen und Rapunzelhaaren getäuscht zu werden. Sarah und ich sind überzeugt davon, dass Gott ironisch drauf war, als er sie erschaffen hat.

    »Wie ich sehe, hast du den Maestro bereits kennen gelernt«, sagt sie zu mir. Ganz beiläufig berührt sie Joes Rücken, als sie auf ihren Platz rutscht – den der ersten Klarinette -, auf dem eigentlich ich sitzen sollte.
    Sie öffnet ihren Kasten und fängt an, ihr Instrument zusammenzubauen. »Joe hat am Konservatorium in Fronce Unterricht genommen. Hat er dir das erzählt?« Natürlich kann sie nicht Frankreich sagen wie normale Sterbliche. Ich spüre, wie sich Sarahs Nackenhaare aufstellen. Sie hat null Toleranz für Rachel, seit
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