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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen
Autoren: Marie Cristen
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Anblick ins Stolpern. Ein Teil der Laibe rutschte ihr vom Holz zu Boden. Adrien musste lachen. Das verdatterte Gesicht des Mädchens war zu komisch.
    Das Wappen an seiner Satteldecke verschaffte ihm Respekt.
    »Seigneur, wir haben Euch nicht erwartet.«
    »Das sehe ich.«
    Adrien sprang aus dem Sattel. Er warf dem Stallknecht die Zügel zu und streifte die schweren Reithandschuhe ab. »Führ den Rappen herum, damit er sich abkühlt. Danach versorgst du ihn und hütest ihn wie dein Augenlicht.«
    Eilig wandte er sich dem Haupthaus zu. Die große Halle nahm mit ihren schmalen Bogenfenstern nahezu das gesamte erste Stockwerk des zweistöckigen Bauwerkes ein. Eine Frauengestalt stand neben dem Kamin. Sie wandte ihm den Rücken zu und mühte sich, einen Arm blühender Weißdornzweige in einem Kupferkrug zu arrangieren. Ein bescheidenes Wollkleid ließ die mädchenhafte Gestalt erkennen. Offene, helle Haare, von einem bestickten Band gehalten, verrieten, dass es sich nicht um eine Magd handelte. Derlei Schmuck leisteten sich nur Mädchen aus guter Familie.
    »Séverine! Lass dich umarmen!«
    Er ließ den Worten so blitzschnell die Tat folgen, dass er das Mädchen schon im Arm hielt, als er in ihr fassungsloses Gesicht sah. Auf der Stelle gab er sie frei und trat zurück.
    »Wer bist du? Ich habe dich verwechselt. Wo ist Séverine?«
    »Manon, Seigneur. Ich bin Manon, die älteste Tochter des Burgvogts«, antwortete das Mädchen so leise, dass er es kaum verstand.
    »Nun also«, räusperte sich Adrien. »Gott zum Gruße, Manon. Wo steckt dein Vater und wo Séverine? Tür und Tor stehen offen. Jeder hat ungehinderten Einlass.«
    »Alle gehen ihrem Tagwerk nach, Seigneur. Mein Vater ist mit seinen Männern auf der Jagd. Die meisten Knechte sind bei der Schafschur. Séverine findet Ihr entweder bei den Pferden oder in der Küche. Gestern war Schlachttag, da ist jede Menge Arbeit angefallen.« Zunehmend selbstbewusster lächelte Manon und besann sich auf die guten Sitten. »Ihr seid sicher hungrig und durstig. Ich werde Euch gleich auftragen.«
    »Mach dir keine Mühe. Ich esse, wenn für alle aufgetragen wird.« Adrien nickte dem Mädchen zu und verließ mit langen Schritten die Halle.
    Bei den Pferden oder in der Küche?
    Adriens Instinkt trieb ihn zu den Pferden. Er kam eben rechtzeitig, um die Geburt des staksigen Fohlens zu erleben, das vom Stallmeister und seinem Jungen mit einem Freudenschrei begrüßt wurde. Blut und Nachgeburt missachtend, umfing der geschmeidige Junge den Hals der Stute und lobte sie für ihre Leistung.
    Seine Stimme ließ Adrien mitten in der Bewegung aufhorchen. Sie war hell und heiter, keine Jungenstimme. Und der armdicke, fest geflochtene, dunkelgoldene Zopf, dessen Ende im Wams des vermeintlichen Jungen verschwand?
    »Séverine.«
    Obwohl er den Namen nur murmelte, hatte sie ihn gehört.
    »Es kann nicht sein! Adrien!«
    Sie war es wirklich. Bevor er es richtig fassen konnte, lag sie in seinen Armen. Sie reichte ihm bis zur Schulter, das goldene Funkeln in den hellbraunen Augen unverändert, ihre Spontaneität und Lebensfreude ungebrochen.
    Überschwenglich lachend hing sie an seinem Hals. Sie war nicht mehr das schmale Kind, von dem er sich verabschiedet hatte. Er spürte die wohlgeformten Brüste, während er ihre Taille noch immer mit beiden Händen umspannen konnte.
    »Du erdrosselst mich, Séverine«, japste er und umfasste ihre Handgelenke, damit sie ihn freigab.
    »Du warst ganze Ewigkeiten nicht mehr zu Hause. Ich dachte schon, du hättest uns vergessen. Dies ist ein Tag zum Feiern. Du bist wieder da, und Étoile hat das herrlichste Fohlen zur Welt gebracht, das je in diesem Stall gestanden hat. Ein kleiner Hengst. Wie findest du ihn? Meinst du, dass der Vogt mir erlaubt, ihn aufzuziehen und auszubilden? Du könntest ein gutes Wort für mich einlegen. Ist dein Vater auch mitgekommen? Wie ist es dir in all der Zeit ergangen? Wie lange kannst du bleiben?«
    Die Worte überstürzten sich. Adrien fiel es schwer, Séverine Einhalt zu gebieten. Es war ihm noch nie gelungen, ihrer außergewöhnlichen Fröhlichkeit zu widerstehen.
    Schon das winzige Kleinkind hatte ihn bezaubert. Fast sechzehn Jahre lag das zurück, und doch hatte er alles vor Augen, als sei es gestern gewesen. Er hatte Séverine unter seinem Reiterumhang verborgen, um das Kind warm zu halten. An seiner Brust hatte es geschlafen während des ganzen Rittes von Dourdan bis nach Faucheville, und nicht einen einzigen Laut hatte es
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