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TS 27: Verpflichtet für das Niemandsland

TS 27: Verpflichtet für das Niemandsland

Titel: TS 27: Verpflichtet für das Niemandsland
Autoren: Milton Lesser
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fachmännisch.
    „Wir müssen den Kieferknochen etwas kürzen.“
    „Für 10 Millionen Dollar“, meinte Smith, „können Sie den ganzen Quatsch völlig herausnehmen und ihn an Ihre Wand hängen.“
     
    *
     
    Sophia Androvna Petrovitch ging die Stadt hinab durch das Gewühl müder Arbeiter und Genossen. Sie zertrat die Zigarette vor dem Eingang zum Haus Stalin-Allee 616, blieb einige Herzschläge lang an der Tür stehen und trat dann ein.
    „Was wünschen Sie?“ fragte der stiernackige Mann hinter dem Schreibtisch.
    Sophia zeigte ihren Parteiausweis.
    „Aber, Genossin, Sie sind eine Frau.“
    „Sie sind schrecklich aufmerksam, Genosse“, sagte Sophia kalt. „Ich bin hier, um mich freiwillig zu melden.“ .
    „Aber eine Frau!“
    „Es steht nichts im Gesetz, das besagt, daß eine Frau sich nicht freiwillig melden kann.“
    „Wir lassen Frauen sich nicht freiwillig melden.“
    „Ich meine, wirklich sich freiwillig melden, aus eigenem, freiem Willen.“
    „Ihrem – eigenen – freien Willen?“ Der Stiernackige nahm die Brille ab und kratzte seinen kahlen Kopf.
    „Sie meinen, sich freiwillig melden ohne –“
    „Ohne Zwang, genau das. Ich bin hier, um mich freiwillig zu melden und zwar für den nächsten Stalin-Treck.“
    „Stalin-Treck, eine Frau?“
    „Genau das habe ich gesagt.“
    „Wir zwingen keine Frauen, sich freiwillig zu melden.“ Der Mann kratzte sich erneut.
    „Oh, wirklich“, sagte Sophia. „Wir haben jetzt 1992 und nicht etwa Mitte des Jahrhunderts, Genosse. Hat Stalin nicht gesagt: ,Die Frau wurde geschaffen, um das ruhmreiche Schicksal von Mütterchen Rußland mit ihrem Mann zu teilen?’“ Sophia schuf diesen Ausspruch willkürlich.
    „Ja, wenn Stalin sagte –“
    „Er hat es gesagt.“
    „Dennoch, ich kann mich nicht erinnern.“
    „Was?“ rief Sophia. „Stalin ist seit 39 Jahren tot und Sie erinnern sich nicht an seine Reden? Wie heißen Sie, Genosse?“
    „Bitte, Genossin. Jetzt, da Sie mich daran erinnern, fällt es mir wieder ein.“
    „Wie heißen Sie?“
    „Hier, ich gebe Ihnen die Freiwilligen-Meldepapiere zur Unterschrift. Wenn Sie die Prüfungen bestehen, dann werden Sie mit dem nächsten Schub auf den Stalin-Treck gehen, obgleich eine so hübsche, junge Frau, wie Sie –“
    „Halten Sie den Mund, und gaben Sie mir die Papiere!“
    Der Mann, der dort hinter dem Schreibtisch saß, verkörperte genau den Grund, aus dem heraus ihr Entschluß geboren war. Weshalb sollte sie, Sophia Androvna Petrovitch, den Wunsch haben, sich für den Stalin-Treck freiwillig zu melden? Man hätte ebensogut einen Vogel fragen können, weshalb er im Winter nach Süden fliegt, einen Tag, ehe die ersten eisigen Stürme über das Land brausen, oder weshalb ein Lemming sich rücksichtslos mit der Masse seiner Artgenossen ins Meer stürzt.
    Es war, als hätte sie ihr ganzes Leben lang halb erstickt und verhungert in einem Kokon gesteckt, dessen flaumige Innenauskleidung sie würgte, wenn sie den Mund öffnete, und dessen lederartige Außenschicht sie umklammerte, wenn sie sich zu regen versuchte. Niemand war je vom Stalin-Treck zurückgekehrt. Sie mußte daher annehmen, daß niemand je zurückkehren konnte einschließlich Sophia Androvna Petrovitch. Aber was würde sie auch schon dabei verlieren. Nichts gab es, um dessentwillen sie gerne zurückgekehrt wäre: Nicht die dumpfen, stinkenden Straßen Stalingrads, nicht die Arbeiter mit ihren geistlosen Gesichtern oder die Genossen mit ihrer vorsichtigen, zitternden und angsterfüllten Unentschlossenheit, nicht die höheren Grade der Genossen, die sich noch mehr fürchten, es aber weniger zeigen.
    Allein der Name war am Stalin-Treck nicht richtig. Es war ein Name, den man unwillkürlich mit allem anderen in Rußland aus poststalinischen Gründen in Verbindung brachte. Aber alles andere am Stalin-Treck klang nach Geheimnis und Abenteuer. Wohin ging man? Wie gelangte man dorthin? Was tat man dort? Weshalb?
    Eine Million Fragen, die sie nächtelang wachgehalten hatten, wenn sie angestrengt darüber nachdachte und die sie tief befriedigten, wenn sie sich nach etwas anderem sehnte. Dann hatte eines Tages Ivanovna Rasnikov zu ihr gesagt: „Es ist ein Witz, ein schrecklicher Witz, daß sie meinen Mann Fyodor auf den Stalin-Treck schicken, wo es ihm doch an genügend Einbildungskraft fehlt, um auch nur von hier nach Leningrad oder auch nur Tula zu gehen. Können Sie sich Fyodor auf dem Stalin-Treck vorstellen? Besser hätten sie schon mich
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