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Traumschlange (German Edition)

Traumschlange (German Edition)

Titel: Traumschlange (German Edition)
Autoren: Rainer Wekwerth
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    Konnte es wirklich sein, dass Linda nie wiederkommen würde, dass sie nie wieder mit ihrer Schwester Arm in Arm durch die Portobello-Road schlendern würde? Abby wusste, dass Linda nicht zurückkommen würde.
    Niemals wieder.
    Unbewusst fasste sie an ihre rechte Hüfte. Ihre Finger ertasteten die schmale, zehn Zentimeter lange Narbe. Die Narbe stammte von einer Organtransplantation. Abby hatte in ihrer Jugend an Niereninsuffizienz gelitten, einer schweren Krankheit und nur eine Transplantation hatte ihr helfen können. Linda hatte sich ohne zu zögern bereit erklärt, eine ihrer Nieren zu spenden. Dass Abby heute ein normales Leben führen konnte, hatte sie Lindas Selbstlosigkeit zu verdanken.
    Nun war ihre Schwester tot.
    Und sie würde ihre Schuld niemals abtragen können.
    Als dieser Gedanke ihr Bewusstsein streifte, kam der nächste Asthmaanfall. Er dauerte zwei Stunden.

     
    Die nächsten Tage verschwammen zu einem Traum, zu einer Reise zwischen den verschiedenen Ebenen ihres Bewusstseins. Abby hätte nicht sagen können, wann sie wach war und wann sie schlief. Bilder aus ihrer Kindheit blitzten auf und verschwanden wieder, sobald sie sich darauf konzentrierte. Es war wie in einem Kino, auf dessen einziger Leinwand mehrere Filme gleichzeitig abliefen. Benommen wandelte sie, einem Geist gleich, durch die kleine Wohnung, ließ das Telefon klingeln, ohne den Hörer abzunehmen und öffnete die Tür nicht, wenn es schellte.
    In regelmäßigen Abständen überfielen Abby Weinkrämpfe, denen sie sich widerstandslos ergab. Oft lag sie zusammengekrümmt auf dem Boden, ein zerknittertes Foto von Linda in ihrer Hand.
    Dieser erste Abschnitt der Trauer endete nach achtundvierzig Stunden, als alle Tränen versiegten. Dann kam der Zorn. Linda war gestorben. Nun war sie ganz allein in dieser kalten Welt. Zuerst ihr Vater, dann ihre Mutter und nun auch noch Linda. Alle hatten sie verlassen.
    In ihrem Kopf hatte sich ein Gedanke festgesetzt. Ja, er quälte Abby regelrecht, flüsterte mit einer ohrenbetäubenden Stimme, die sie nicht ignorieren konnte.
    Hol sie heim! Hol Linda heim! , wisperte die Stimme unaufhörlich. Schließlich gab sich Abby diesen Worten hin. Linda war in einem fremden Land, unter einem fremden Himmel begraben worden. Abby beschloss, ihre Schwester heimzubringen, damit sie ihre letzte Ruhestätte neben ihrer Mutter finden konnte.
    Diese Entscheidung gab ihr neue Kraft, milderte den Schmerz und dämpfte ihren Zorn. Es war eine Geste der Versöhnung mit der Verstorbenen. Es war etwas, dass Abby tun musste, um zu überleben.
     
     
    Ihr Vorhaben erwies sich schwieriger als erwartet. Abby verbrachte Stunden am Telefon, rief verschiedene Regierungsstellen an, bis man sie schließlich an das Auswärtige Amt verwies. Am nächsten Morgen nahm sie ein Taxi, um den Antrag auf Rückführung des Leichnams ihrer Schwester zu stellen.
    Ein kleinwüchsiger Beamter in mittleren Jahren, dessen spärlicher Haarkranz ihn wie einen Dominikanermönch wirken ließ, las Linda Summers Sterbeurkunde und erklärte, Abby müsse sich zuerst eine Genehmigung vom Staatlichen Gesundheitsamt besorgen, das ihr die Einführung des Leichnams erlaubte.
    Sie suchte die entsprechende Behörde auf und musste sich einen halbstündigen Vortrag über Infektionsgefahren und Bestimmungen anhören, bevor man ihr die gewünschte Genehmigung erteilte. Zudem erhielt sie die Auflage, dass der Leichnam in einem verzinkten, feuerfesten und verschlossenen Sarg transportiert und ungeöffnet beerdigt werden müsse.
    Zurück beim Auswärtigen Amt nahm ihr der zwergenhafte Beamte das Formular ab. Sein runder Kopf hob sich, nachdem er den Stempel zum letzten Mal auf das Papier geschmettert hatte.
    „Sie wissen, dass Sie den Antrag persönlich in Haiti bei den entsprechenden Behörden einreichen müssen, da dieses Land einer Freigabe des Leichnams sonst nicht zustimmen wird.“
    „Ich soll nach Haiti fliegen?“, fragte Abby entsetzt.
    „Wenn Sie ihre Schwester hier bestatten wollen, wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben.“
    „Sehen Sie das!“, zischte Abby und hob ihren Gipsfuß an, dass ihn der Mann hinter dem Schreibtisch sehen konnte. „Ich habe einen gebrochenen Fuß. Kann nicht die Botschaft...?“
    „Nein“, stellte der Mann lapidar fest.
    Abby stöhnte auf. „Und wo bekomme ich einen verzinkten, feuerfesten Sarg für den Transport?“
    Der Beamte zuckte mit den Schultern und wandte sich einer ältere Frau mit Perücke zu, die
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