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Traumschlange (German Edition)

Traumschlange (German Edition)

Titel: Traumschlange (German Edition)
Autoren: Rainer Wekwerth
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drängten.
    Der Auftrag von Ternham Ternham war genau zum richtigen Zeitpunkt hereingekommen. Sie hatte keinen Augenblick gezögert, ihn anzunehmen. Die Umbauten der Galerie hatten mehr als drei Wochen in Anspruch genommen, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen.
    Die Handwerker waren am Tag zuvor fertig geworden, aber Abby hatte gewartet, um die endgültige Wirkung ihres Entwurfs allein zu begutachten. Dies war ein Moment, den sie stets genoss. Wenn alle Arbeiten beendet waren und das Objekt zum ersten Mal in noch jungfräulichem Licht erstrahlte.
    Sie hörte, wie die Tür im Eingangsbereich geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde. Leise Schritte näherten sich über den hellen Marmor, den sie für den Boden ausgesucht hatte. Sie wandte den Kopf und blickte in Robert Ternhams lächelndes Gesicht. Kurz vor ihr blieb der Galeriebesitzer stehen und drehte sich mit ausgebreiteten Armen bewundernd um die eigene Achse.
    „Wunderbar!“, rief er begeistert aus. „Einfach wunderbar!“
    „Es gefällt Ihnen?“
    Sein Blick barg milde Ironie. „Gefallen? Es ist phantastisch.“
    Er trat einen Schritt näher und legte ihr seine schmale Hand auf die Schulter. Normalerweise waren Abby solche Vertraulichkeiten zuwider, doch sie mochte Ternham. Er war ein gut aussehender, schlanker Mann in den Vierzigern, der ihrem Lieblingsmusiker Sting ähnelte, mit langen blonden Haaren und Gesichtszügen, die ein wenig feminin wirkten. Über seiner rechten Oberlippe hatte er eine halbmondförmige Narbe, die wie ein winziges Lächeln wirkte.
    Ternham war die Art von Mann, die Abby gefiel, aber sie wusste, sie brauchte sich keine Hoffnung machen, denn Ternham war schwul. Schon mehrfach hatte sie beobachtet, wie sein Lebensgefährte ihn abends von der Galerie abholte und dabei ungeniert auf den Mund küsste. Zuerst war sie darüber schockiert gewesen, dennoch beneidete sie die beiden insgeheim um ihr Glück. Sie selbst war seit einem Jahr Single und hasste das Alleinsein.
    „Was halten Sie von den Figuren?“, fragte Ternham.
    „Sie möchten meine Meinung wissen?“
    „Ja.“
    Abby ließ ihren Blick in die Runde schweifen, obwohl sie die Skulpturen in den letzten Wochen schon hundertfach betrachtet hatte.
    Manray Adams arbeitete ausschließlich mit Holz, das er bearbeitete und polierte, aber niemals lackierte. Er wollte die Struktur des Materials erhalten, die seinen Figuren, die selten höher als dreißig Zentimeter waren, ein merkwürdiges Eigenleben einhauchte. Seine Werke waren abstrakt, aber dennoch so gegenständlich, dass man sie interpretieren konnte.
    Eine Skulptur hatte es Abby besonders angetan. Es war die vereinfachte Darstellung einer Frau, ohne Kopf und Gliedmaße. Der Künstler hatte die Form auf die schlichte Linie des weiblichen Rückens reduziert, die sich sanft von einem imaginären Hals bis zum Steiß schwang. Ohne sich dessen bewusst zu werden, vollendete der Betrachter im Geist, was der Künstler nur angedeutet hatte. Die Figur war atemberaubend. Abby war während ihrer Arbeit in der Galerie immer wieder fasziniert vor dem Sockel stehen geblieben, auf dem die ‘Venus’ befestigt war. Auch jetzt berührte das Werk etwas in ihrem Inneren, von dem Abby wusste, dass es da war, das sie aber trotzdem nicht benennen konnte.
    „Er ist ein großartiger Künstler“, sagte sie leise zu Ternham. „In seiner Arbeit ist Wahrhaftigkeit erkennbar. Leid ist Leid, Freude ist Freude. Es gibt nichts Dazwischen. Die Wahrheit existiert in einer Klarheit, die schwermütig macht. So sollte das Leben sein und ist es doch nie, denn das Leben ist grau, niemals schwarz oder weiß und dass macht es so eintönig.“
    Ternham lächelte und sie schwieg verlegen. „Sie haben recht. Ich beurteile seine Werke genauso.“ Sein Blick durchforschte ihr Gesicht. „Sie haben eine erstaunliche Beobachtungsgabe.“
    Abby sah auf ihre Armbanduhr. „Jetzt muss ich aber gehen.“ Sie erhob sich, griff nach ihrem Werkzeuggürtel und ging zur Tür. Dort zögerte sie einen Moment.
    „Danke für den Auftrag.“
    Bevor der Galeriebesitzer etwas erwidern konnte, war Abby verschwunden.
     
     
    Abby hielt den Brief in ihren Händen und starrte ihn stumm an. Sie stand im Eingang ihres Hauses, die Einkaufstüten neben sich auf den Boden gestellt und fixierte den schlichten grauen Umschlag an. In der rechten oberen Ecke klebte eine bunte Briefmarke mit tropischem Pflanzenmotiv, ansonsten sah der Umschlag aus wie Tausende andere Umschläge auch.
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