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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger
Autoren: Marlo Morgan
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meines Herzens angepaßt schien. Alle blickten schweigend auf ihren Anführer. Dieser stand auf und ging auf mich zu. Lächelnd blieb er vor mir stehen. Plötzlich spürte ich zwischen uns ein unbeschreibliches Gefühl von Vertrautheit. Intuitiv wußte ich, daß wir alte Freunde waren, aber das war natürlich Unsinn. Ich vermute, daß ich mich einfach durch seine Präsenz geborgen und akzeptiert fühlte.
    Der Älteste löste eine längliche Lederröhre aus Schnabeltierhaut von dem Band an seiner Taille und schüttelte sie über seinem Kopf. Dann öffnete er sie an einem Ende und ließ ihren Inhalt auf den Boden fallen. Um mich herum lagen Steine, Knochen, Zähne, Federn und runde Lederscheiben. Mehrere Stammesmitglieder halfen, die Stellen zu markieren, wo die einzelnen Gegenstände gelandet waren. Sie waren beim Anbringen der Zeichen im Sand mit ihren Zehen genauso flink und geschickt wie mit ihren Fingern.
    Dann wurde alles zurück in den Behälter gegeben. Der Älteste sagte etwas und reichte den Behälter an mich weiter. Irgendwie erinnerte mich das Ganze an Las Vegas, also hielt auch ich die Lederröhre in die Luft und schüttelte sie. Ich wiederholte das Spiel, indem ich sie ebenfalls an einem Ende öffnete und den Inhalt zu Boden fallen ließ. Dabei hatte ich keinerlei Kontrolle darüber, wo die einzelnen Teile landeten. Zwei Männer auf Händen und Knien maßen mit Hilfe der Füße eines anderen aus, wo mein Wurf im Unterschied zu dem ihres Ältesten gelandet war. Einige gaben ein paar Kommentare dazu ab, aber Ooota machte keine Anstalten, sie mir zu übersetzen.
    An diesem Nachmittag machten wir mehrere Tests, von denen mich einer besonders beeindruckte. Man reichte mir eine hellgrüne Frucht, die eine dicke, bananenartige Schale hatte, jedoch wie eine Birne geformt war, und bat mich, sie zu halten und zu segnen. Was sollte das bedeuten? Ich wußte es nicht, deshalb sagte ich in meinen Gedanken einfach: »Lieber Gott, bitte segne dieses Essen«, und gab sie dem Ältesten zurück.
    Er nahm ein Messer, schnitt die Spitze der Frucht ab und begann sie zu schälen. Die Schale fiel jedoch nicht wie bei einer Banane an der Frucht hinunter, sondern kringelte sich in Spiralen um sie herum. In diesem Moment wandten sich sämtliche Gesichter mir zu. Unter all den Blicken aus schwarzen Augen fühlte ich mich unbehaglich. Als hätten sie es vorher eingeübt, stießen sie alle gleichzeitig ein lautes »Ah« aus, und zwar jedesmal, wenn der Älteste eine weitere Schale abschälte. Ich wußte nicht, ob dieses »Ah« nun ein gutes oder ein böses »Ah« war, aber irgendwie war mir klar, daß die Schale der Frucht sich beim Schälen normalerweise nicht kringelte. Was immer diese Tests auch anzeigen mochten, ich hatte wenigstens die Mindestpunktzahl erreicht.
    Eine junge Frau mit einem Teller voller Steine kam auf mich zu. Es war wahrscheinlich eher ein Stück Pappe als ein Teller, aber sie war so mit Steinen vollgehäuft, daß ich es nicht genau erkennen konnte. Ooota blickte mich sehr ernst an und sagte: »Wähle einen Stein. Wähle weise. Er hat die Kraft, dein Leben zu retten.«
    Obwohl ich mich heiß und verschwitzt fühlte, überzog mich auf der Stelle eine Gänsehaut. Meine Eingeweide reagierten mit einer Frage in ihrer eigenen Sprache. Die verkrampften Bauchmuskeln signalisierten: »Was soll denn das bedeuten? Die Kraft, dein Leben zu retten!« Ich schaute auf die Steine. Sie sahen alle gleich aus.
    An keinem schien irgend etwas Außergewöhnliches zu sein. Es waren einfache, graurote Kiesel, ungefähr von der Größe einer Münze. Ich wünschte mir, einer von ihnen hätte geleuchtet oder irgendwie besonders ausgesehen. Doch nichts. Also spielte ich einfach Theater: Konzentriert schaute ich auf die Steine, als würde ich jeden einzelnen genau untersuchen. Dann wählte ich einen der oberen aus und hielt ihn triumphierend in die Höhe. Alle Gesichter strahlten mich zustimmend an, und insgeheim jubelte ich: »Ich habe den richtigen Stein gewählt!«
    Aber was sollte ich jetzt damit machen? Ich konnte ihn nicht einfach fallen lassen und ihre Gefühle verletzen. Mir bedeutete dieser Stein zwar nichts, aber ihnen schien er wichtig zu sein. Weil ich keine Tasche hatte, in die ich ihn hätte stecken können, fiel mir kein anderer Ort ein als der Ausschnitt meines derzeitigen Gewandes. Und prompt vergaß ich, was ich in den Taschen von Mutter Natur aufbewahrte. Als nächstes löschten sie das Feuer, bauten ihre Gerätschaften
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