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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger
Autoren: Marlo Morgan
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aber waren Experten. Einige sammelten Feuerholz, andere Pflanzen. Zwei Männer hatten den ganzen Nachmittag eine Last zwischen sich getragen. Sie hatten ein farbloses Stoffstück zwischen zwei Speere gespannt und es zu einem Beutel geformt. Von außen sah dieser Beutel aus, als würde er beim Wandern von riesigen Murmeln ausgebeult. Jetzt setzten sie ihr Tragegestell ab und entnahmen ihm verschiedene Gegenstände.
    Eine sehr alte Frau kam auf mich zu. Sie hätte meine Großmutter sein können, denn sie war gute neunzig Jahre alt. Ihr Haar war schneeweiß. Weiche, tiefeingegrabene Falten überzogen ihr Gesicht. Ihr Körper wirkte hager, stark und angenehm geschmeidig, aber ihre Füße waren so ausgetrocknet und verhärtet, daß man sie fast für eine Art Tierhuf hätte halten können.
    Es war dieselbe Frau, die mir schon vorher wegen ihrer schön gemalten Hals- und Fußgelenkornamente aufgefallen war. Jetzt öffnete sie einen kleinen Beutel aus Schlangenhaut, den sie um ihre Taille trug, und goß etwas in ihre Hand, das aussah wie verfärbte Vaseline. Ich erfuhr, daß es sich um eine Creme aus verschiedenen Blattölen handelte. Sie deutete auf meine Füße, und ich nickte zustimmend - natürlich wollte ich mir helfen lassen. Sie hockte vor mir nieder, legte meinen Fuß in ihren Schoß und rieb die Salbe in meine geschwollenen Wunden. Dabei sang sie ein Lied. Es war eine beruhigende Melodie, fast als sänge eine Mutter ein Wiegenlied für ihr Baby. Ich fragte Ooota, was die Worte bedeuteten.
    »Sie entschuldigt sich bei deinen Füßen. Sie sagt ihnen, wie sehr du sie zu schätzen weißt, wie sehr jeder in dieser Gruppe deine Füße zu schätzen weiß. Und sie bittet sie, wieder gesund und kräftig zu werden. Es sind die Melodien für das Heilen von Wunden und Schnitten. Außerdem singt sie Töne, welche die Flüssigkeit aus den Schwellungen ziehen. Sie bittet deine Füße, besonders stark und widerstandsfähig zu werden.«
    Ich bildete es mir nicht ein. Der Schmerz in meinen brennenden und stechenden Wunden ließ tatsächlich nach, und allmählich verspürte ich Erleichterung. Während ich da saß, mit meinen Füßen in diesem großmütterlichen Schoß, ging ich im Geiste noch einmal die Ereignisse des heutigen Tages durch. Wie konnte dies passieren? Wo hatte alles angefangen?

4 •   Auf die Plätze, fertig, los
    Es hatte in Kansas City angefangen. Niemals im Leben werde ich diesen Morgen vergessen. Nach mehreren Tagen Zurückgezogenheit hatte die Sonne sich entschieden, uns wieder mit ihrer Gegenwart zu beehren. Ich war früh in meine Praxis gegangen, um ein Programm für einige Patienten zu entwickeln, die besondere Zuwendung brauchten. Meine Sprechstundenhilfe würde erst in zwei Stunden kommen. Schon immer hatte ich diese Morgenstunden sehr geschätzt, weil sie mir Ruhe für meine Vorbereitung gewährten.
    Als sich mein Schlüssel in der Eingangstür drehte, hörte ich das Telefon läuten. Ein Notfall? Wer sonst sollte so früh vor Öffnung der Praxis anrufen? Ich eilte in mein Sprechzimmer, hob mit einer Hand den Hörer ab und schaltete mit der anderen das Licht an.
    Eine aufgeregte Männerstimme begrüßte mich. Es war ein Australier, den ich auf einem Ärztekongreß in Kalifornien kennengelernt hatte. Jetzt rief er aus Australien an.
    »Tag. Was würden Sie davon halten, ein paar Jahre in Australien zu arbeiten?«
    Ich war völlig sprachlos und hätte beinahe das Telefon fallen lassen.
    »Sind Sie noch da?«
    »J-j-ja«, brachte ich hervor. »Bitte erklären Sie mir, was Sie damit meinen.«
    »Ihr außergewöhnliches Programm der Patientenschulung zur Krankheitsverhütung hat mich so beeindruckt, daß ich meinen Kollegen hier von Ihnen erzählt habe. Sie haben mich gebeten, Sie anzurufen.
    Wir möchten, daß Sie ein Fünf Jahresvisum beantragen und herkommen. Sie könnten Informationsbroschüren verfassen und von unserem staatlichen Gesundheitssystem finanzierte Kurse geben. Es wäre wirklich wunderbar, wenn wir so etwas durchführen könnten, und überhaupt - es würde Ihnen die Möglichkeit geben, ein paar Jahre in einem fremden Land zu leben.«
    Der Vorschlag, mein schönes Haus am See zu verlassen und eine gutetablierte Praxis mit Patienten, die über die Jahre gute Freunde geworden waren, aufzugeben, war ein echter Angriff auf mein Sicherheitsbedürfnis. Aber gleichzeitig war ich natürlich auch sehr neugierig darauf, zu sehen, wie ein verstaatlichtes Gesundheitswesen funktionierte, das jeden
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