Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traum ohne Wiederkehr

Traum ohne Wiederkehr

Titel: Traum ohne Wiederkehr
Autoren: André Norton
Vom Netzwerk:
graue Kleid einer Träumerin, sondern ein langes, normalerweise wallendes Gewand, das sie jetzt jedoch eng bis zu den Knöcheln einhüllte. Seine Farbe war ein dunkles Violett, das ihr gut gefiel. Von seinem Saum bis zu den Knien war es mit einer kunstvollen, verschlungenen Stickerei versehen. Und je länger sie sie betrachtete, desto mehr erschien sie ihr wie geschriebene Worte. Es ähnelte einer Schrift, die ihr von geschichtlichen Videobändern vage vertraut war.
    Von einem Gürtel aus silbernen Kettengliedern hing ein verschlossener Beutel. Purpurne Steine schmückten die silberne Gürtelschnalle. Vom Hals bis zur Taille war das Gewand mit einer silberfarbigen Kordel verschnürt, die durch metallene Ösen im Stoff gezogen war.
    Was sie schließlich vom Kopf hob, war nicht die vertraute Metallkappe, die Traumkrone, die eng auf ihrem kurzgestutzten Haar auflag, sondern ein Krönlein aus Silberdrahtgeflecht, das wie bei einem Spitzhut zusammenlief und gut dreißig Zentimeter hoch war. An seiner Spitze befand sich ein wundervoll skulptiertes fliegendes Geschöpf mit leicht erhobenen Schwingen, als mache es sich bereit, sich in die Lüfte zu heben. Winzige Edelsteinsplitter stellten seine Augen dar.
    Sie erkannte diesen herrlichen Vogel aus den Geschichtsbändern als den Flakar Olavas. Daß sie ihn trug, konnte nur bedeuten, daß sie ein Mund Olavas war, teils Priesterin, teils Zauberin, und so seltsam es ihr auch erschien, teils Unterhalterin. Das Glück hatte es jedenfalls damit gut mit ihr gemeint, denn der Mund Olavas durfte sich überall hinbegeben, ohne daß jemand Fragen stellte, und jeder würde annehmen, daß die Priesterin ihren normalen Pflichten nachging.
    Tamisan strich über ihren Kopf, ehe sie die Krone wieder aufsetzte. Ihre Finger berührten jedoch nicht das Stoppelhaar einer Träumerin, sondern seidenweiche, wenn auch nasse Strähnen, die sich am Nacken und über der Stirn zu Locken ringelten.
    Olava war zur Zeit der Herrschaft der Oberkönigin als Gott verehrt worden. Hatte sie, Tamisan, sich vielleicht in der Zeit zurückversetzt? Je eher sie herausfand, wo und wann sie sich befand, desto besser für sie.
    Der Regen ließ allmählich nach. Sie nahm den Saum ihres Gewandes mit beiden Händen und kletterte den Hang wieder hoch, um sich umzuschauen. Auf der der Mauer entgegengesetzten Seite befand sich ein weiterer Hügel, durch dessen dicht beisammenstehende Bäume auf der Kuppe sie ein Giebeldach zu sehen glaubte. Sie beschloß, diesen Hügel hochzusteigen.
    Das Haus, dessen Dach sie gesehen hatte, war von hellem Gelb. Tür und Läden waren genau wie das Dach in einem leuchtenden Grün gestrichen. Noch während sie es betrachtete, trat eine Frau aus der Tür und winkte heftig. Mit einem seltsamen Gefühl im Magen wurde Tamisan bewußt, daß damit nur sie gemeint sein konnte.
    Sie kämpfte gegen das beunruhigende Gefühl an. In ihren Träumen war sie es gewohnt, fremde Menschen zu treffen und sie wieder zu verlassen, aber das waren Personen, die sie selbst erfunden hatte und nichts Unerwartetes taten, wie diese Frau hier.
    »Tamisan! Beeil dich, sie warten auf dich!« rief die Frau, die ein grünes Gewand trug, ihr zu.
    Tamisan hatte gute Lust, einfach davonzulaufen. Aber sie mußte erfahren, was geschehen war, und das konnte sie vielleicht hier. Davonzurennen dagegen mochte gefährlich sein.
    »O Olava! Bist du naß! Bei so einem Wetter geht man doch nicht spazieren! Die Oberste der Erstrangigen ist hier. Sie möchte, daß du ihr aus dem Sand liest. Beeil dich, wenn du von der Großzügigkeit ihres Beutels profitieren willst, denn sie könnte leicht ungeduldig werden!«
    Die Frau, deren Gewand wie ihres ein geschnürtes Mieder hatte, drängte sie durch die Tür in ein großes Zimmer mit einem Kreis Sesseln in der Mitte. Vor jedem befand sich ein Tischchen mit benutztem Geschirr, das eine Magd gerade wegräumte. Zwischen den Sesseln standen Kerzenhalter von Tamisans Größe, mit armdicken Kerzen, die dem Zimmer nicht nur trautes Licht verliehen, sondern auch einen würzigen Duft.
    In der Mitte des Sesselkreises stand ein besonders hochlehniger Sessel mit Baldachin. Eine Frau mit einem Kelch in der Hand saß in ihm. Ein Pelzumhang verbarg fast ihre gesamte Kleidung darunter, nur da und dort blitzte im Kerzenschein etwas golden auf. Unter der Kapuze aus dem gleichen metallischen Material war bloß ihr Gesicht zu sehen. Es war das einer sehr alten Frau mit eingefallenen Augen und über und über von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher