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Trapez

Trapez

Titel: Trapez
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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sich Angelo – der Fänger, ein kleiner, untersetzter Mann Mitte dreißig mit schwarzgelocktem Haar – hochgezogen und saß auf dem Trapez, einen Arm locker um das Seil gelegt und schaukelte sanft hin und her.
    »Was ist los?«
    »Brief von Liss«, rief Mario zurück und ri ss den Briefumschlag auf. Während Mario den Brief las, sah Tommy auf das gesamte Zirkuspanorama, das unter ihm lag. Der Platz sah immer gleich a us, ob sie in Texas oder Tennes see, in Oklahoma oder Ohio aufbauten. In der staubigen Texassonne sahen die Wohnwagentrauben, in denen die Artisten lebten, wie eine kleine Stadt aus; von den breiteren Dächern der Stadt dahinter getren nt. Hinter den meisten Wohnwagen flatterte nasse Wäsche. Dicke Stromkabel wanden sich wie Schlangen überall auf dem Platz, alle in Richtung auf den Generatorwagen.
    Die Buden wurden aufgebaut, sie bildeten eine Gasse, um die Massen hineinzu schleusen. Hinter Seilabsperrun gen, die Neugierige fernhalten sollten, standen die Zirkustiere, eingesc hlossen von den parkenden Baula stern und Ausrüstungswagen. Unten bei den Käfigen, wo die Raubkatzen zwischen den Vorstellungen gehalten wurden, sah Tommy einen roten Hemdzipfel und einen breitkrempigen Hut: sein Vater, der nachsah, ob keines der Weibchen läufig war und keines der Männchen eine wunde Tatze oder einen geschwollenen Zahn hatte.
    Direkt unter ihnen in der Manege übte eine Akrobatentruppe; Tommy konnte Margot Clane hören, wie sie für sie zählte: »Eins-zwei, eins-zwei… allez-hopp.« Andere Gerüste wurden aufgebaut, für den Seiltänzer Shuffles Small und für das Luftballett mit dem Namen PINK LADIES. Hinter ihnen breiteten sich die Dächer der Stadt aus, verschwommen im Rauch der Baumwolldrescher.
    Eine fremde Welt, eine von der Tommy nichts wu ss te.
    Papa Tony, Antonio Santelli, klein, drahtig, grauhaarig mit grauem Schnauzbart, ruhte sich aus, ein Bein über die Plattform geworfen. »Gibt’s was Neues?« fragte er.
    Mario hatte seinen Brief zu Ende gelesen, faltete ihn zusammen und steckte ihn in das Hüftband seines Trikots. »Nichts Besonderes. Ich glaub’, sie ist einsam.
    Aber es dauert ja nicht mehr lange, in einer Woche bauen wir ab.«
    »Das wird auch höchste Zeit«, erklärte Papa Tony. »Es ist zu kalt für die Abendvorstellungen. Oder will der padrone etwa, dass wir in unseren langen, roten Wollunterhosen fliegen?«
    »Und gestern Abend war der Wind so stark, dass ich kaum die Seile ruhig halten konnte«, sagte Mario. Er war ein dünner, schlank gebauter junger Mann Anfang zwanzig, sah aber jünger aus. Seine dicken, schwarzen Locken waren aus seiner hohen Stirn zurückgekämmt und seine dunklen Augen unter schrägstehenden Brauen gaben seinem Gesicht ein etwas fremdes, beinah teuflisches Aussehen. Man mu ss te ihn schon eine Weile kennen, bevor man herausfand, dass seine Augenbrauen eine glatte Lüge über sein Gesicht erzählten. Manche fanden es nie heraus. »Sonst noch Post, Tom?«
    »Nichts für dich, nein. Aber ich hab’ eine Karte bekommen. Ich wollte dir davon erzählen. Weißt du noch, dass ich letztes Jahr in San Angelo zur Schule gegangen bin, als Dad dort im Zoo arbeitete? Ich kenne da ein paar Kinder, Jeff Marlin und seine Schwester Nancy – Jeff und ich hatten das gleiche Schließfach in der Schule. Er sagt, dass er und Nancy am Donnerstag in die Vorstellung gehen und dass sie vorher vorbeikommen wollen.«
    »Schön für dich, deine Freunde wiederzusehen«, sagte Papa Tony, »aber heute ist Donnerstag. Werden sie kommen?« Auf Tommys Nicken wandte sich Papa Tony Mario zu. »Matt, hast du es ihm gesagt?«
    »Nein, ich habe es glatt vergessen. Tommy, wir haben Big Jim gefragt, ob er mal diese Woche einen Vormittag vorbeikommen kann, bevor wir für den Winter zusammenpacken. Also krieg keine weichen Knie.«
    Tommy schluckte, versuchte aber so zu tun, als ob ihm die Sonne in die Augen schien. »Hey, heißt das etwa …?«
    »Das heißt gar nichts, außer dass er langsam wissen will, ob ich den ganzen Sommer lang meine Zeit vergeudet habe«, sagte Mario vorsichtig. »Du sollst nichts übereilen. Ich hab’ dir das oft genug gesagt. Wenn du etwas zuverlässiger wirst, könnten wir dich ab und zu mal einspringen lassen. Aber warte, la ss dir bloß Zeit… Ich hab’ gesagt…«
    »Hey, Mario, ich warte«, rief Angelo vom anderen Ende des Trapezes herüber. Mario erhob sich mit einer geschmeidigen, fließenden Bewegung. Die Plattform schwankte wie ein Schiffsdeck, aber alle drei
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