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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen
Autoren: Birgit Lautenbach
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Geste, mit der sie auf Haus und Garten wies, wirkte ratlos und erschöpft. »Neue Leitungen, Telefon, die Fassade streichen. Das hatten wir uns für dieses Jahr vorgenommen. Später irgendwann das Dach. Aber so … Ich kann das nicht. Ich muss hier weg, verstehen Sie? Sonst kriege ich einen Nervenzusammenbruch.«
    Bloß nicht, dachte Pieplow und sagte vorsichtig: »Ich fürchte, das wird nicht gehen. Nicht, solange die Kripo noch Fragen hat.«
    »Aber nicht in diesem Haus! Das kann niemand von mir verlangen.« Sie sah ihn streitlustig an.
    »Nein, das nicht«, versicherte er hastig und war froh, dass es Ende September genügend freie Quartiere auf der Insel gab. Im Sommer wäre das ein größeres Problem gewesen.
    »Wir versuchen es im Inselblick «, schlug Kästner vor. »Das ist nicht allzu weit entfernt, und Sie müssen nicht über dem da die Nacht verbringen.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zur Plane.

2
    Es hätte noch eine Weile dauern sollen. Zehn Jahre vielleicht, zwanzig allerhöchstens. Dann wären alle, die’s etwas angeht, über hundert. Und auch wenn hier die Menschen sehr alt werden, wäre dann wohl kaum mehr jemand da, für den noch eine Bedeutung hätte, was damals geschehen ist.
    Jetzt aber werden sie nachforschen. Fragen stellen. Herausfinden wollen, über wessen Leiche die Schlesingers siebzig Jahre lang ihre Sommerfrische verbracht haben.
    Ich weiß nicht, ob es ihnen gelingen wird. Ob jemand sein Schweigen bricht. Aus purer Geschwätzigkeit oder um sich wichtig zu machen.
    Sogar ich verspüre eine gewisse Versuchung, es zu tun. Denn je älter man wird, umso seltener werden die Gelegenheiten, im Mittelpunkt zu stehen. Es wäre um vieles spannender als der achtzigste oder neunzigste Geburtstag, mit so einer Geschichte aufzuwarten. Einer Geschichte von Liebe und Verrat, von Gewalt und Mord.
    Ich werde es nicht tun.
    Wir werden es nicht tun.
    Was wir wissen, werden wir mit ins Grab nehmen und hoffen, dass dort, wo wir dann sind, Gnade vor Recht ergeht.
    Doch was geschieht mit uns, jetzt, wo die Erinnerung wie ein ungebetener Gast durch die Tür tritt, die wir so lange fest verschlossen hielten? Wenn sie sich an unseren Tisch setzt und Bild um Bild präsentiert wie die Karten in einem düsteren Spiel?
    Es gibt so vieles, wofür sich das Zurückblicken lohnt. Aber was nun hervordrängt, an die Oberfläche treibt wie ein Kadaver, hätte im Verborgenen bleiben sollen. Also verschließen wir unsere Augen, als sei, was geschehen ist, anderen widerfahren. Nicht uns. Und wir tun, als kämen wir sogar vor uns selbst mit diesem Betrug davon.
    Vielleicht ist es doch an der Zeit, das zu ändern.
    Ich weiß nicht, ob Friedrich genauso denkt. Wir haben nur ein paar Sätze gewechselt, seit er zurück ist. Was dabei gesprochen wurde, ist nicht der Rede wert. Hoch auf den Deich gehe ich schon lange nicht mehr. Das Treiben im Hafen bedeutet mir zu wenig, als dass ich mir die Mühe noch machte, und auf den Straßen begegne ich ihm nur selten. Aber ich weiß, dass er dort oben sitzt. Jeden Tag. Und ich müsste mich sehr irren, wenn er sich nicht genauso wie ich immer wieder dieselben Fragen stellt.
    Zuerst die danach, wie alles begann.
    Damit meine ich nicht, dass wir hier geboren sind, dass wir uns kennen, seit wir denken können, und alles zusammen gemacht haben, was damals zu einer Kindheit gehörte. Kühe und Gänse hüten, genauso wie Kiebitzeier und Bernstein sammeln. Baden und Verstecken spielen. Und natürlich zur Schule gehen, auch wenn uns die Zeit oft vergeudet schien. Besonders im Sommer, wenn es draußen so viel zu erleben gab, während wir sauber und brav in unseren Bänken sitzen mussten. Die Kleinen vorn, die Großen in den hinteren Reihen, die Mädchen links, die Jungen rechts des Gangs, über den Friedrich immer öfter zu Clara hinübersah. Auf ihren Nacken mit den feinen hellen Härchen, die noch zu kurz waren, als dass sie sich in die Zöpfe hineinflechten ließen.
    Ich meine damit, dass alles ganz anders hätte kommen können, wenn Friedrich nicht seeverrückt gewesen wäre. Kapitän wollte er werden, Schiffer auf großer Fahrt, und nicht nur auf der Ostsee herumschippern. Der Atlantik sollte es sein, der Pazifik, der Indische Ozean.
    Aber darüber war mit seiner Mutter nicht zu reden.
    »Marachen kannst du auch hier«, sagte sie schroff, wenn er versuchte, sie umzustimmen. Friedrich wusste nur zu gut, was das bedeutete. Wenn er nicht Schuster oder Kolonialwarenhändler wurde, wie sie es sich
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